Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge eins
Wie alles begann

Meine Großmutter, also die Urgroßmutter des Kindes, ist ohne Weiteres das, was ich eine würdige, ältere Dame nennen mag. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist liebevoll und ein wenig vergesslich. Wie es in ihrem Alter zu sein hat. Und wage keiner, sie alt zu nennen, der würde mit scharfen Blick zurechtgewiesen. Der Altersunterschied zwischen ihr und ihrer Urenkelin beträgt schlappe 82 Jahre, den überbrücken beide spielend: Das Kind gibt der Fußbank einen Tritt, greift sich das Telefon (null null eins acht null sechs sechs...), brüllt singend und der Urgroßmutter zu Ehren LAUDATO SI, OMI O SIGNOHOHORE in den Hörer und langt auf die Anrichte, „nein!, nicht die Figurine!!“ Und meine Großmutter ist ganz Dame, erhaben über alles, ihr Blick ruht liebevoll auf ihren Liebsten. Schauen wir genauer hin: Nein, nur auf der Urenkelin. Der Enkel ist bestenfalls Dekoration.

Urenkelinnen sind phantastisch, Enkel hingegen schwer seltsame Wesen. Zum Beispiel haben sie die Angewohnheit, sich nur so zirka einmal im Monat telefonisch zu melden. Natürlich könnte die Großmutter auch selbst zum Telefonhörer greifen und nach dem Rechten lauschen. Lieber aber grämt sie sich einige Wochen. Und klingelt der von Ängsten und schlechtem Gewissen ruinierte Enkel dann endlich durch, so ist zwischen den großmütterlich ironischen Worten „ach, das ist ja nett, dass du mich auch mal anrufst!“ nicht zu überhören: „Ich habe keine Enkel mehr!“ Gäbe es nur etwas, sie würde mich enterben.

Aber seit dreieinhalb Jahren hat sie eine Urenkelin, das ist natürlich ein ganz anderer Schnack. Die ist süß und lieb, und Großmutter bewundert am allermeisten, wie schnell so ein kleines Kind wächst und vor allem: lernt! Schade, dass sich dieser liebevolle Blick, der da auf der Lütten ruht, nicht irgendwie irgendwo irgendwann auf den Enkel überträgt. Was der schon alles gelernt hat!

Hat er nämlich nicht. „Kannst du denn Auto fahren?“, lautete Großmutters ausgesprochen zweifelnde Frage, als ich sie vor einigen Jahren nach Erwerb des Führerscheins – zugegeben spät, aber immerhin – zur ersten Ausfahrt einlud und in den Wagen einlud. Ja, liebe Großmutter, das kann man nach all den Fahrstunden und einer bestandenen Prüfung. Mehr oder weniger vielleicht, aber man kann. Sogar ihr Enkel konnte und brachte sie nach kleiner Rundfahrt heil wieder nach Hause. Bestimmt hat sie die ganze Zeit gebetet – und bestand bei den nächsten Fahrten darauf, dass ihre Tochter dabei sei.

Als ich vor langer Zeit das damals noch brabbelnde Kind das erstemal auf der großmütterlichen Kommode ausbreitete und allerlei Krams und Windeln auch, da hörte ich „Kannst du denn wickeln?“ Und zu meinem Bericht vom so genannten Babyschwimmen ließ sie verlauten „Kannst du denn schwimmen?“ Das waren keine Fragen, das waren Postulate: Eben noch selbst das große Windelpaket in den Armen ihrer Tochter, jetzt kann er schon schwimmen? Mit Mitte Dreißig? So ein Quatsch!

Und noch davor, als ich erzählte, dass meine Frau schwanger sei, da zuckten Großmutters Mundwinkel. Sie sagte nichts. Aber ich konnte mir denken, welche Frage sie dachte.

Tja, und dann war das Kind da. Und alles begann.

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