Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge zwei
Himmelgewimmel

Unlängst marschierte – anders kann man es kaum nennen – das Kind in die hiesige Bücherei, stracks zu den Kinderbüchern, zog mit sicherem Griff ein scheinbar beliebiges Buch und ging damit zur Theke. Ich hatte in der Zwischenzeit kaum die Jacke geöffnet, geschweige denn mich in eine Zeitschriften vertiefen oder gar mit der jüngsten Neuerung unserer Bücherei liebäugeln können – der Espressomaschine.

Zuhause besahen wir in Ruhe, was das Kind ausgeliehen hatte – ich war erstaunt, der Titel des Buches lautete: Wo bist du, lieber Gott? Muss das Kind einer Pastorin solche Bücher ausleihen? Werden solcherlei Fragen hier nicht fortwährend am Frühstückstisch besprochen und mittags diskutiert und beim Abendessen zusammengefasst – worauf die gefundene Antwort zu der Frage in die Predigt des nächsten Sonntags eingebaut werden kann, zur Erbauung der Gemeinde? Ist es nicht so? Offenbar nicht. Darüber wird noch nachzudenken sein.

In dem Buch Wo bist du, lieber Gott? sind Kindergebete versammelt, und darunter findet sich auch dieses:

Du – lieber Gott:
Als ich vom Kindergarten nach Hause kam,
lag ein kleiner Vogel auf dem Weg.
Er bewegte sich nicht.
Papa sagte, dass er tot sei.
Ich kann das nicht verstehen.
Warum ist der Vogel tot?

Das Gebet geht noch ein bisschen weiter, und es geht irre. Die entscheidende Frage lautet nicht „Warum tot?“. Als wir selbst neulich im Wartehäuschen unserer Bushaltestelle einen sehr kleinen, sehr toten Vogel fanden, fragte das Kind nicht, warum er tot sei, sondern warum er auf der Sitzbank und nicht auf dem Boden läge. Gehört Totes nicht auf den Boden? Oder vielmehr in den Boden? „Ja“, antwortete ich, „eigentlich schon.“ – „Und dann kommt es zu Momo!“

Das Kind hat – als Kind einer Pastorin – bisher keine wesentlichen Berührungsängste mit dem Thema Tod gezeigt. „Mama hat eine Beerdigung!“ kommt hier eben ab und an mal vor, auch der Unterschied zwischen Urnenbeisetzung und Erdbestattung ist annähernd geläufig, und beides ist an sich schön, denn auf frischen Gräber liegen viele Blumen. „Ist die Frau jetzt bei Momo?“ Genau dort. „Momo passt auf sie auf!“ Du sagst es, mein Kind.

Momo war der Hund meiner Schwiegereltern und die erste Begegnung des Kindes mit dem Tod. Ein zottiges liebes Wesen, das seinen letzten öffentlichen Auftritt im Outdoor-Krippenspiel als Hund der Hirten hatte, die draußen auf den Feldern lagen und der Engel Sang hörten und so, Sie haben von der Geschichte vielleicht schon mal gehört. Momo machte seine Sache gut, gerade angesichts seines fortgeschrittenen Alters: Er hielt seine Schäfchen beisammen. Das tut er übrigens auch heute noch, im Himmel, und er macht seine Sache bestimmt gut.

Allerdings sind es zwischenzeitlich ziemlich viele geworden, auf die Momo aufpassen muss, im Himmel. Denn natürlich passt er nicht nur auf Menschen auf, sondern eben auch auf verstorbene Vögel, Katzen und Marienkäfer. Besonders schöne Blätter, die jetzt vom Baum herabfallen und im Garten liegen, kommen auch in den Himmel. So steht die Frage im Raum, wie Momo das alles schaffen soll und wie viel Platz eigentlich wirklich im Himmel ist.

Das ist doch mal wieder eine klassische Frühstücks-Frage.

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