Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge drei
Wann ist ein Mann ein Mann?

Unlängst schoben Vater K. und ich unsere jeweilige Kinderkarre mit unserem jeweiligem Kind durchs Dorf. Wir waren beim Kinderturnen gewesen und jetzt auf dem Heimweg. Da begegneten wir dem Nachbarn Z.

Nachbar Z. ist ein gestandener Mann mit ordentlich Muckis. „Ein Mann wie ein Baum“, so sagt man. Bei uns in der Gegend heißt es „Ein Mann wie ein Deich“. Und der grüßte nun Vater K. und mich, betrachtete uns und unsere Herzallerliebsten in den Karren und grinste. „Na, Männer?!“, so sagte er, mit seltsamer Betonung des Wortes „Männer“ darin. Die Betonung gefiel mir nicht. Und als ob das nicht gereicht hätte: „So gut möchte ich es auch einmal haben!“ Wann ist ein Mann ein Mann?

Früher war ein echter Kerl der, der mit der Knarre in den Wald ging und mit Wildschweinkleinklein zurückkam für Frau und Kind. Nun gibt es bei uns an der Westküste kaum Wälder. Auch mit Fischen ist hier nix, unser Dorf hat keinen Steg. Und radelte ich einfach zum nächsten Deich und schösse ein Lamm herunter, es gäbe wohl, nun, einigen Ärger. Sowieso habe ich keine Knarre. Schweizer müsste man sein.

Früher gab es Männer mit Muckis und Männer mit Knarre. Und wenn die mit Muckis einem schräg kamen, dann hatte man – so man nicht auch Muckis hatte – wenigstens noch die Knarre. Heute haben Vater K. und ich nur die Karre, die mit Kind drin nämlich, uns Berufsvätern ist da irgendwie das „n“ abhanden gekommen.

Wann ist ein Mann ein Mann? Es ist schon viele Monate her, dass ich dieser Frage ganz grundsätzlich auf die Spur kam. Und das kam so:

Das Kind und ich begleiteten Mama und also Ehefrau zu einer Besprechung ins so genannte Predigerseminar in eine ferne Kleinstadt. Vor nämlicher Besprechung war noch ein wenig Zeit zum Plaudern und Kaffeetrinken auf der dortigen Terrasse. Zum Abschied küsste meine Frau mich und wollte ihr Kind herzen – riss es sich aber sofort wieder vom Schoß und warf es mir in die Arme.

Feucht war die Lütte, klebrig und stinkend. Kurz: bis zur Halskrause voll. Es sickerte an allen Enden heraus. Die Latzhose als Ganzkörperwindel. Meine Frau krauste die Nase und sagte mit einem Lächeln in den Augen: „Schatz, ich hab’ jetzt einen Termin!“ – und verschwand hinter gepolsterten Türen. Was sie zu diesem  Zeitpunkt bereits wusste, erfuhr ich wenig später auf der Suche nach den Windeln: Die Kinderklamottentasche samt Windeln und Krams stand ordentlich gepackt zuhause neben der Kommode. Keine einzige Windel hatte ich dabei, keine Klamotten zum Wechseln. Ich konnte das klebrige Kind noch nicht einmal in den Kinderwagen legen, denn der war nur geliehen.

Ich habe das Problem gelöst. Ich werde aber niemandem verraten, wie. Auch dem Nachbarn Z. nicht. Denn so wie ein Mann ein Mann werden muss auf seine ureigenste Weise, so muss auch ein Vater ein Vater werden auf seine ureigenste Weise. Und manchmal ist dieses Vaterwerden sehr männlich. Mit Knarre oder ohne. Mit Karre oder ohne. So viel sei gesagt: Niemand kam zu Schaden, körperlich nicht und auch nicht psychisch. Aber es war knapp.

Der Satz „Schatz, ich hab’ jetzt einen Termin!“ hat seitdem allerdings einen unglaublich männlichen Klang, für mich.

zurück