Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge fünf
Das Kind als Schaf

Die Altvorderen unseres Dorfe erinnern sich gerne an einen früheren Pastor, der besaß Schafe. Und die weideten im Pastoratsgarten und hielten das Gras schön kurz. Allerdings war der Zaun etwas löchrig, und so weideten die Schafe gelegentlich auch außerhalb des Pastoratsgartens, hielten die Stiefmütterchen in den Gärten der Nachbarschaft kurz, stromerten ganz allein über die Friedhofswarft und hingen vor der Bäckerei ab. Und – das ist jetzt nicht erfunden! – wer dem Pastor eine Nachricht zukommen lassen wollte und vielleicht kein Telefon hatte oder nur ein kaputtes, der band dem nächstbesten Schaf einen Zettel um den Hals. Die Zustellung erfolgte abends, wenn der Pastor seine Schäfchen wieder ins Trockene brachte.

Ganz so weit ist das Kind natürlich noch nicht. Erstens ist es kein Schaf, auch wenn es, wie alle Kinder, durchaus so gucken kann. Und zweitens stromert es noch nicht allein über die Friedhofswarft. Noch nicht.

Aber immerhin, der Anfang ist gemacht. Die Indizien sprechen dafür: Da sind zum einen die Stiefmütterchen der Nachbarschaft. Wenn man nicht aufpasst beim Spazierengehen, dann wird man schon mal mit der an sich ja erfreulichen Botschaft „Papa, ich hab dir Blumen gepflückt!“ konfrontiert. Nachbarin N. grüßt über den Gartenzaun, sie hat das Desaster in ihrem Vorgarten also noch nicht bemerkt. Freundlich grüßen und schnell weitergehen.

Zum anderen hängt das Kind gerne vor der Bäckerei ab, und ohne mich loben zu wollen, stellt es doch eine gewisse Leistung dar, es ohne Anwendung von roher Gewalt von dort wieder wegzudiskutieren. „Komm weiter!“ „Neihein!!“ „Warum nicht?“ „Ich will ein Brööötchen!!“ „Aber wir haben kein Geld mit!“ Kleine Pause. „Papa, du kannst doch ohne Geld einkaufen!!“ Wieso merkt sich eine Dreijährige, dass ich gelegentlich anschreiben lassen, weil mein Portemonnaie verschollen ist?

Doch zurück zum Schafsgebaren. Denn ich denke, in wenigen Monaten haben wir auch das letzte Glied in der Kette. Dann wird die Lütte mittags auf dem kleinen Dorfplatz aus dem Kindergartenbus steigen und alleine nach Hause laufen. Das darf sie natürlich nicht. Aber sie wird es tun. Denn manchmal kommt der kleine Bus ein wenig zu früh, und dann ist Papa vielleicht noch nicht da... Und dann gibt es eine für Dreijährige fabelhaft spannende Abkürzung über die Friedhofswarft.

Wenn Sie also demnächst ein kleines Kind auf unserem Friedhof herumstromern sehen, können Sie ihm gerne einen Zettel um den Hals hängen. Wenn die Lütte im Trockenen ist, wird die Pastorin Ihre Nachricht bekommen. Denn das ist hier im Ort Tradition. Und Traditionen wollen doch gepflegt werden.

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