Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge sechs
Herr Pastorin

Neulich, im Supermarkt, rennt das Kind ein altes Mütterchen um. Ich helfe dem Mütterchen von den Fliesen hoch, sie dankt und erkennt mich und grüßt freundlich: „Moin, Herr Pastor!“ Dann aber stutzt die gute Frau und meint kopfschüttelnd: „Nee, das geht ja auch irgendwie nicht!?“ Recht hat sie, aber ihr kann geholfen werden – es heißt „Herr Pastorin“. Denn ich bin emanzipiert und mache das, was in den letzten neunhundert Jahren hier vor Ort die Frau vom Pastor gemacht hat, eben „Frau Pastor“.

Als da wären: Gemeindebüro saugen, Kuchen backen, Stühle aus dem Gemeindesaal in die Kirche schleppen, danach auch noch zwei Tische. Kirche aufschließen, Glocken läuten, Kirche abschließen. Diverse Post- und Botendienste, mal eben in die Druckerei fahren. Stühle aus der Kirche wieder in den Gemeindesaal schleppen, danach auch noch zwei Tische. Alte Grabsteine aus dem Erdreich stemmen.

Ich mache das natürlich nicht alles täglich. Wer sollte die ganzen Kuchen essen? Ich mache das auch nicht alles immer – aber alles immer wieder mal und auch immer wieder gerne. Recht eigentlich betrachtet sind da einige Dinge dabei, die Frau Pastor in den letzten neunhundert Jahren eher selten gemacht haben dürfte. Grabsteine aus dem Erdreich stemmen zum Beispiel. Na gut, dafür backe ich dann einen Kuchen weniger.

Es klingelt an der Tür. Ich öffne. „Guten Tag! Ich wollte Sie fragen, wann ...“ An der Grußformel erkennt man den Auswärtigen. Hier sagt man ja sonst „Moin“ zu allen Unzeiten. Und fragen wollte mich noch nie jemand etwas. Wenn, dann meine Frau.

„Ach, Sie sind gar nicht der Pastor? Ich dachte, ich meine, äh, es steht doch dran ‚Pasters Hus’?“ „Ja, meine Frau ist hier Pastorin.“

Dass eine Frau berufstätig ist, ist nicht wirklich neu. Bäckerinnen und Lehrerinnen kennt man. Und natürlich die Bäuerinnen. Dass Frauen aber auch Pastorinnen werden können und dann sogar einer ländlichen Gemeinde vorstehen, ist schon etwas neuer. Immerhin ist meine Frau hier die erste Pastorin seit neunhundert Jahren. Also seit Bestehen der Gemeinde. Also der christlichen.

Dem freundlichen Menschen, der da an der Tür geklingelt hat, dämmert jetzt die zwangsläufige Frage: Und was macht der Mann der Pastorin hier so, außer dümmlich im Türrahmen stehen? Hat der nix zu tun? Doch, hat er, Teil eins siehe oben, Teil zwei kommt gleich aus dem Kindergarten zurück.

Beim vorletzten Geburtstagsbesuch, den meine Frau absolvierte, wurde sie gefragt: „Wer passt denn jetzt gerade auf Ihr Kind auf?“ Wohlgemerkt, der Fragenden war klar, dass meine Frau weder alleinstehend noch alleinerziehend ist. Sprich: Dass eine Frau Pastorin ist, gut, kann man mit leben. Aber dass der Mann auf das Kind aufpasst? Der Mann der Pastorin – ein seltsames Subjekt.

Emanzipation tut not. Aus dem etymologischen Lexikon: „Emanzipieren – 1) einerseits einen erwachsenen Sohn oder Sklaven aus der väterlichen Gewalt in die Selbstständigkeit entlassen; 2) andererseits wird „emanzipieren“ auch allgemein auf die innere Befreiung aus den Fesseln des Herkommens, der Weltanschauung, von Vorurteile usw. bezogen.

Ganz klar. Ich bin aus der väterlichen Sklaverei in die Selbstständigkeit entlassen. Und ich befreie die lokale Gesellschaft aus den Fesseln von Weltanschauung und Vorurteilen. Ich lege wert auf meinen Ehrentitel „Herr Pastorin“. Es klingelt an der Tür – bis später.

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