Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge acht
Radio Lina

Ist Ihnen auch schon einmal aufgefallen, dass es nur wenige wohlklingende Mädchennamen gibt, die nicht auch Name einer Frauenzeitschrift sein könnten oder Name eines Radiosenders? Sofort fällt Ihnen RadioNora ein oder die Zeitschrift „Brigitte“ – fragt meine Frau mich vor einigen Tagen: „Weißt du, wo die CD ist, die in der ‚Brigitte’ lag?“ Kann man sich vorstellen, was in einem solchen Moment im Kopf einer Dreijährigen vorgeht, die von Zeitschriften nicht viel weiß, aber eine Kindergärtnerin hat, die Brigitte heißt?

Immerhin heißt keines der Spielgefährten Nora. Ohnehin brauchen wir RadioNora & Co. gar nicht, denn wir haben RadioLina. Sie kennen RadioLina nicht?

RadioLina ist ein als dreijähriges Kind getarntes, nun ja, Gerät, das permanent ein Wort- und Gesangsprogramm sendet. Gerät und Programm in einem. Man kann es – zumindest tagsüber – nicht ausschalten. Man kann den Sender nicht wechseln. Auch die Lautstärke ist nicht variabel und liegt immer zehn Dezibel über der an sich gerade notwendigen. Zehn Dezibel mehr werden übrigens als eine Verdoppelung der Lautstärke empfunden.

Gott sei Dank – das war jetzt mal keine Redewendung – ist das Radio nachts still. Ab und an springt es schon mal im Schlaf an – „Nein, Lukas, nein!!“ Wer ist Lukas? – doch standardmäßig beginnt das Programm erst morgens. Seien wir ehrlich: Wir schalten es morgens ein, wir sind dafür verantwortlich, dass das Radio ein Frühstück bekommt und in den Kindergarten geht.

Denn vormittags sendet RadioLina im Kindergarten. Beim letzten Fest nahm mich eine der Erzieherinnen beiseite und fragte mich mit einer Mischung aus Mitleid und Schwermut: „Sagen Sie, Herr Kolbe, redet sie zuhause auch so viel?“ Und ich dachte immer, Kindergärtnerinnen seien einiges gewohnt.

Uns fehlt ja auch der unmittelbare Vergleich im häuslichen Bereich, denn wir haben nur das eine Radio. Wie man zu einem zweiten Gerät kommt, wenn man denn will – darüber nächste Woche mehr.

RadioLina ist immerhin gebührenfrei und ohne Decoder zu empfangen. Und es gibt sogar einen Ableger: Das ist RadioLinaInfo. Im erwähnten häuslichen Bereich ist RadioLinaInfo meistens wortkarg, wenn man das bei einem Radio so sagen kann.

Zuhause, klassischer Dialog: „Wie war’s im Kindergarten?“ „Ganz gut.“ „Erzähl doch mal, was hast du gemacht?“ „Alles mögliche.“ Danke! Besonders der zweite Teil deiner detailreichen Ausführung war fesselnd! Später wird sie ihrem Analytiker erzählen, ihre Eltern haben sich nie für sie interessiert und daraus resultiere dann alles andere. 

Außerhalb des Heims aber wird RadioLinaInfo seinem Namen gerecht: Es ist informativ. Wir sind also unterwegs und treffen beliebige fremde Leute. Und wir werden mit diesen fremden Leute dann durch RadioLinaInfo bekannt gemacht. Um die Wahrheit zu sagen: Wir werden ihnen bekannt gemacht:

„Wie heißt du? Meine Puppe heißt Lelle. Ich hab’ auch eine Lara. Mein Papa war im Krankenhaus, weil er dicke Beine hat. Unser Hund heißt Jola. Die Ärzte haben die Krampfadern ’rausgemacht. Meine Mama ist auf dem Friedhof. Papa muss jetzt humpeln. Ich habe im Kindergarten in der Hängematte geschaukelt. Jola hat heute in den Garten gekackt.“

Wir lieben unser Radio.

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