Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge einhundertundeins
Hoch hinaus

Vor langer Zeit war hier schon die Rede vom größten Wunsch, den eine kleinstes Kind nur haben kann. Sehen wir genauer hin: Was ist wirklich wichtig im Leben einer Fünfjährigen?

Da ist zunächst alles, was rosa ist. Egal was, Hauptsache rosa. Wären Nacktschnecken rosa, würde das Kinderzimmer von ihnen wimmeln. Dabei haben wir uns sehr bemüht, das Kind farbneutral zu erziehen. Achtundneunzig Prozent unserer Mitmenschen sind nicht farbneutral erzogen worden: Wo auch immer wir damals mit brabbelnden Kleinstkind auftauchten, bekleidet mit blauem Strampler oder grüner Hose: „Ach, wie niedlich – wie heißt er denn, der Kleine?!“

Als „der Kleine“ dann anfing, seine Sätze nicht mehr mit „Babapfrrrllpf...“ zu beginnen sondern mit „Ich will...“, begann der Siegeszug der Farbe Rosa in unserem Haus. Und zu allem, was rosa ist, kommt alles, was süß ist. Okaaay, das Begehr kann ich schon eher nachvollziehen. Es wäre besser, könnte ich es weniger gut nachvollziehen – rein bundweitentechnisch betrachtet.

Neben rosa und süß gibt es eine weitere Sehnsucht: hoch. Hoch? Hoch! Und was ist das Höchste? Ein Hochbett!! Schon vor rund zwei Jahren – siehe Folge neun – lag uns das Kind adventlich in den Ohren: „Ich wünsche mir ein Hochbett!!“ Manches dauert etwas länger, aber nichts wird vergessen. GAR nichts. Und nun hat’s dank Internet, dank Opa endlich sein Hochbett – und ist dort kaum wieder herunterzulocken. Höchstens mit etwas Süßem.

Die meisten Freundinnen des Kindes haben ein Hochbett oder sind täglich zu Tränen verzweifelt, weil sie keines haben. Woher kommt diese Leidenschaft, dieser Höhenrausch? Von mir hat sie das nicht, mir wird schwindelig, wenn ich nur im ersten Stock aus dem Fenster schaue.

Lässt man seinen Kindern eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil werden – also ein bisschen mehr als satt und sauber –, stellt man schnell fest, dass sie fortwährend hoch hinaus wollen. Steckt offenbar so drin in ihnen. Der Ganzlütte hebt den dicken Schädel vom Deckchen, die Augen treten hervor, er sabbert vor Anstrengung – aber er tut’s. Wenn er dann irgendwann sitzen kann, wird er stehen wollen. Wenn er stehen kann, wird er auf die Sofalehne wollen und von dort aufs Bücherregal und immer höher. Und dann noch höher.

Aber warum? Was ist so schlimm da unten? Ich habe den Selbsttest gemacht und mit der Digitalkamera die Welt und mich selbst aus der Höhe von einem Meter über Normalnull fotografiert. Dann habe ich die Bilder auf meinen Computer übertragen und mir in Ruhe angesehen. Nach zwei Bildern war mir klar, dass ich an meiner Kinnpartie arbeiten muss, nach drei Bildern war mir klar, warum Kinder hoch hinaus wollen.

Da unten gibt’s keinen Überblick. Man sieht nicht, was kommt. Man sieht im wörtlichsten Sinn nicht hinter die Dinge. Aus der Höhe von einem Meter sieht ein Kind vor sich nur Beine und Gesäße und dergleichen. Hebt es aber den Kopf, sieht es vor allem Kinnpartien. Und außerdem ist da unten die Luft viel schlechter, weil dort ja auch der Hund wohnt. Sehr verständlich also, dass Kinder hoch hinaus wollen.

Aber warum noch höher? Ganz klar: Größer sein als Papa! Und warum das? Auch klar: Morgens nicht mehr aufstehen müssen! Denn ganz oben und ganz hinten auf dem Hochbett, da kommt Papa nicht mehr an. Und dann kann er sein Kind morgens auch nicht mehr ans Tageslicht zerren...

zurück