Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

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Folge einhundertundzwei
Ganz die Tochter

 

„Ganz der Vater!“, hört man gelegentlich, wenn man als stolzer Vater seine Neuerwerbung herumzeigt, und das hört Mann gerne. Denn schon vielleicht zwei Wochen später hört man gänzlich Konträres: „Nee, von dir hat er ja so gar nix!“ Als Mann ist man da ja immer etwas, nun ja, zweifelnd. Also ganz allgemein betrachtet, jetzt nicht konkret. Nicht, dass Sie denken.

Später verwächst sich das sowieso ein wenig, sowohl beim Vater als auch beim Kind, und gipfelt schließlich in der Erkenntnis: „Von mir hat sie das aber nicht!“

Sicher erinnern Sie sich noch an Folge achtundvierzig, den Vaterschaftstest, der Ihnen anhand von acht Fragen zweifelsfrei aufzeigte, ob Ihr Kind auch tatsächlich Ihr Kind ist. Die Frage, ob mein Kind vielleicht wie in dem schon erwähnten schöne französischen Film „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss“ als Säugling in der Entbindungsklinik vertauscht worden ist, stellt sich mir aber nicht mehr. Denn ich habe – jenseits etwaiger männlicher Zweifel oder gar Speichelproben – den einhundertprozentigen Beweis gefunden, dass mein Kind mein Kind ist.

Waren wir doch unterwegs gewesen. Nicht lange, nicht weit, weshalb ich neben der Reisetasche auch nur den schwarzen Rucksack für Kleinkram dabei hatte. Und als wir wieder daheim waren, schickte ich mich des Abends – alle Kinder 3s (satt, sauber, schlafend) – an, erst die Reisetasche und dann meinen schwarzen Rucksack für Kleinkram auszupacken. Und kippte dessen Inhalt auf meinen Schreibtisch:

Zwei Taschenbücher, ein zerfleddertes Notizbuch samt Kugelschreiber (voll funktionsfähig!), ein kleiner schwarzer Schirm mit Etui. Vierzehn lose abgebrannte Streichhölzer, dreizehn lose frische Streichhölzer, ein Erfrischungstüchlein, ein Spezialreinigungstuch für Silikonhaftbänder. Das legendäre Um-die-Ecke-Stöckchen (wieso ist das im Rucksack, das liegt doch seit Jahr und Tag auf dem Schreibtisch?!). Sechs Mädchenhaargummis. Drei winzig kleine Papierschiffchen – das Kind kann mittlerweile sogar schon Dampfer mit zwei Schornsteinen aus einem Blatt Papier falten! Ich nicht! Drei Werbeaufkleber mit Abbildungen von Modell-Dampfmaschinen. Fünf Hundekackenotbeutelchen, vier Babykackenotbeutelchen, ein halbvolle Packung Baby-Po-Feuchttücher, drei frische Windeln, eine Stilleinlage. Eine Injektionsspritze (intramuskulär, abgelaufen), zwei Packungen Taschentücher (nasal, frisch). Zwei Packungen mit jeweils sechs kleinen Hörgerätebatterien, drei einzelne Hörgerätebatterien in einer von mir nicht verwendeten Größe. Drei Plastikgabeln (gering klebrig), zwei Plastiklöffelchen, drei Plastikstäbchen zum Umrühren von Kaffee (wie neu!). Ein dickes und ein dünnes Gummiband. Zwei Luftballons (einer rot, einer perlgenoppt). Ein Schraubenschlüssel (13er), ein winzig kleiner roter Schraubenzieher, eine Diskette (sic!).

Und wie das alles so ausgebreitet vor mir auf dem Tische lag, fiel mir ein, was ich an genau dieser Stelle schon alles über das schier unüberschaubare Kleinkindgerümpel auf unseren Fensterbänken und allen anderen horizontalen Flächen geschrieben hatte. Und Schamröte überzog mein Gesicht, denn irgendwie ist so ein Ruchsack ja auch nur eine Fensterbank. Doch ich bedachte alles bei mir. Und ein großes Strahlen kam über mein Gesicht. Ist eben wirklich mein Kind:

Ganz der Vater!

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