Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge hundertundvier
Welterklärung, aber wann?

In  der letzten Folge widmeten wir uns der Frage, wie alt man sich fühlt: Entscheidend ist die Zahl der Fragen, die ein kleines Kind stellt, wenn man von „früher“ erzählt. Sind es viele Fragen, hat sich die Welt schnell entwickelt – und verwickelt –, und also fühlt man sich alt!

Was habe ich mich als Kind amüsiert bei der Geschichte „Der 35. Mai“ von Erich Kästner an der Stelle, an der ein Passant ein Telefon aus der Jackentasche holt und im Lustwandeln telefoniert! Heute ist es fast unvorstellbar, dass wir vor noch nicht allzu vielen Jahren ohne Handy, nun, vegetierten.

Und die Menschen noch davor? In unserer Familie gab es eine Nenntante – Tante Friedel – die richtig alt geworden ist, fast einhundertundein Jahr alt! Tante Friedel war Jahrgang 1889, sie hatte den Kaiser gesehen, der ins Exil ging, da war sie Ende Zwanzig. Als die Nationalsozialisten an die Macht gewählt wurden, war sie Mitte Vierzig. Als in Berlin die Mauer gebaut wurde, war sie Anfang Siebzig.

Und ich kann mich gut an sie erinnern, weil ich selbst schon so alt war, dass in meinem Kinderhirn genügend Platz war, um Erinnerungen zu speichern. Sie war alt, aber las noch jeden Tag die Zeitung. Gelegentlich kamen dann Fragen wie „Mein Rainerlein, was ist eigentlich ein Computer?“. Tja, das erklären Sie mal einer Hundertjährigen! Tante Friedel gab sich mit „Na ja, so eine Mischung aus Schallplatte, Schreibmaschine und Fernseher“ zufrieden. Einen Fernseher allerdings kannte sie auch nur vom Hörensagen.

Meinem Kind muss ich „Computer“ nicht erklären, Computer und Handys sind Bestandteile des Alltags. Doch es gibt noch genügend andere Dinge in der Welt, die erklärt werden wollen und sollen. Die Erklärungsnot von Eltern betrifft ja nicht nur den technisch Bereich, sondern auch gänzlich menschliche Dinge. Und damit meine ich noch nicht einmal so Mysteriöses wie Gott oder Sex, sondern so normales wie Erdbeben und Krieg.

Als meine große Lütte und ich neulich Sportschau guckten und ich in der Werbepause neue Bieronade holte, erzählte mir das Kind hernach, was in der Welt geschehen sei. In der Werbepause kommt nämlich eine kurze Nachrichtensendung, wie ich mich dann sofort, wenn auch zu spät erinnerte. Ein schweres Erdbeben in China kann für ein fünfjähriges Hirn schon recht beeindruckend sein.

Kein Vergleich aber mit Kaffee und Kuchen bei Uroma! Da erzählte die alte Dame ganz beiläufig vom Krieg, die ganze Familie war ja ausgebombt, und wie in eben jener Nacht die Hamburger in die Fleete sprangen, weil der Phosphor..., an dieser Stelle konnte ich sie mit einer gezielten taktischen Frage nach ihrem letzten Arztbesuch aus dem Erinnerungsstrom reißen. Nicht, weil ich der Meinung bin, dass ältere Leute sich nicht erinnern dürften oder nicht erzählen sollten. Doch zu Füßen der Uroma saß die Urenkelin, und ich bin durchaus der Meinung, dass es für manche Aspekte der Welterklärung noch zu früh ist.

Gott sei Dank war die Lütte gerade abgelenkt und mit den Ü-Ei-Figuren beschäftigt, die bei Uroma immer auf sie warten, so dass sie vielleicht ausnahmsweise nur mit halben Ohr hingehört und erstmal keine Fragen hatte. Die kommen wahrscheinlich bei nächster unpassender Gelegenheit: „Papa, was sind eigentlich Phosphorbomben??“

Tja, das erklären Sie mal eine Fünfjährigen!

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