Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundfünf
Eisenbahnerstreik

Fallweise braucht man ja auch als glücklicher Dorfbewohner ein wenig Urbanität, dann macht man sich auf. Allerdings hat man den halben Hausstand dabei, wenn man mit zwei kleinen Kindern unterwegs ist. Und wenn das Auto dann beladen ist, steht vor einem der Hund mit waidwundem Blick. Ach ja, da war noch einer. Also räumt man um, doch so viel man auch immer umräumt, vier Leute und alles Gerümpel und Kinderwagen und Hund – es passt nicht in ein Auto.

Wir organisieren uns neu. Der Säugling bleibt sinnvollerweise bei der Mutter, ich aber schnappe mir Tasche, Rucksack und meine Fünfjährige: Wir gehen zum Bahnhof! Denn wir leben auf einem Dorf, das noch mit einem echten Bahnhof ausgestattet ist.

Oha, mit Kind und Gepäck in der Bahn, ist das nicht ganz schön anstrengend? Es geht, jedenfalls ist es einfacher als man vorher denkt. Die meisten Mitreisenden sind recht hilfsbereit, auf vielen Bahnhöfen gibt es Fahrstühle, vor allem aber ist das Kind konzentriert bei der Sache. Und entgegen der grundsätzlichen Befürchtungen aller Eltern stürzen kleine Kinder nicht permanent von der Bahnsteigkante.

So eine Eisenbahnreise ist eine große Sache für ein kleines Kind: Es wird nicht angeschnallt! Und was es alles im Zug zu entdecken gibt. Klapptischen und Klapplehnen, Fahrradständer, auf denen man herumturnen kann, Druckknöpfe und Notbremsen... Hat der Schaffner seinen guten Tag, bekommt das Kind eine Spielfahrkarte mit einem bunten Bild vorne drauf und einem echten Zangenabdruck von der Schaffnerzange. Zentrale Frage aber: Wann kommt endlich die Frau mit dem kleinen Wägelchen und der Schokolade durch den Zug?

So eine Eisenbahnreise ist eine große Sache für einen Vater: Wo wird Teddy liegen bleiben? Wird uns die allfällige Signalstörung vor oder hinter Elmshorn ereilen? Wird der Anschlusszug ein Anschlusszug sein oder nur ein Rücklicht? Zentrale Frage aber: Wann kommt endlich die Frau mit dem kleinen Wägelchen und dem Kaffee durch den Zug?

Einen besonders hohen Unterhaltungswert haben natürlich die Mitreisenden. Man macht so seine Beobachtungen. Noch nicht herausgefunden habe ich beispielsweise, warum es gerade die älteren sind, die am wenigsten Zeit haben: Der Zug ist pünktlich, er hat fünf Minuten Aufenthalt. Doch mit zunehmenden Alter wird zunehmend geschoben und gezogen, über anderer Leute Gepäck geklettert und auch schon mal über eine komplette Fünfjährige, um nur ja die rettende Tür als Erster zu erreichen.

Noch ganz anders spannend wird die Reise mit dem Nachtzug. Wir hatten ein Liegewagenabteil für uns und viel Spaß und waren am nächsten Morgen in der Provence. Die Rückreise wurde sogar noch viel spannender, weil die französischen Eisenbahner streikten; unser schöne Nachtzug fuhr GAR nicht. Weshalb wir unter Zuhilfenahme von Armen und Beinen und Hotlines und Fahrplänen mit einem der wenigen doch irgendwie verkehrenden Züge erstmal Richtung Spanien geschickt wurden... Immerhin bekamen wir so auch noch das Mittelmeer zu sehen. Und mit nur achtmaligen Umsteigen waren wir wieder zuhause. Alle wohlbehalten, sogar Teddy war nirgends liegen geblieben.

Die Nachwirkungen der Reise bekamen wir in einem der nächsten Gottesdienste, als am Eingang Gottesdienstzettel ausgegeben wurde. „Kriegt Teddy auch einen Kirchenfahrplan??“

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