Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundsechs
Fortbildung

Sie hat uns verlassen, die Lieblingspastorin! Anfang letzter Woche! Und das Baby hat sie mitgenommen! Fortbildung nennt sie es. Sturmfreie Bude, die Luft ist rein, und das Kind und ich können jetzt mal so richtig – entschuldigen Sie – die Sau rauslassen. Jetzt geschehen die Dinge, von denen Urgroßmütter in ihren kühnsten Albträumen zu träumen kaum wagen. Mann und Kind allein im Haus, das geht ja überhaupt gar nicht!

Die Pastorin hat sich ausführlich vom Kind verabschiedet und das Baby geschultert, sie hat mich gestreichelt und den Hund geküsst, sich kurz besonnen, den Hund gestreichelt und mich geküsst. Und die Tür zugeworfen. Kurz hört man noch das Auto, weg ist sie. Fünf Tage.

Ich aber bringe das Kind wohlfrisiert (höhö!) und mit sauberer (höhö!) Kleidung ausgestattet zum Kindergartenbus. Daheim lege ich dann umgehend das ganze alberne Papi-Getue ab, werde zum Mann, gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank und hole mir eine Flasche Guten-Morgen-Bier heraus. Lümmel mich aufs Sofa mit einer Fachzeitschrift (höhö!), öffne das Bier, nehme drei große Schlucke. Ich preise den Herrn.

Mit weiteren Bieren und Lektüren geht so ein Vormittag auch rum, und mittags verwandelt sich der Mann in mir wieder in einen Papi. Ich hole das Kind vom Bus ab, wir tippeln fröhlich plaudernd nach Hause. Wir decken gemeinsam den Tisch, ich greife zum Schrotbrot, nein, ich vergaß, wir sind ja unter uns. Ich hole eine Packung Toastbrot aus dem Küchenschrank und das Nutella-Glas.

Dann ist Mittagspause, ich lege mich zur Entspannung etwas aufs Sofa. Das Kind verwüstet voller Hingabe sein Zimmer. Nachmittags toben wir durch alle Räume, ärgern den Hund, essen Schokolade bis zum Abwinken, rücken Möbel, und basteln etwas Schönes aus Meerschweinchen und anderen Materialien, mit viel Kleister und auch Sekundenkleber.

Abends wird bei uns ja warm gegessen, natürlich auch, wenn die Mutter nicht da ist. Ich heize den Ofen vor und hole zwei Tiefkühlpizzen aus dem Eisfach. Ja, ich habe vorgesorgt: für jeden Abend eine andere Sorte. Außer Donnerstag, da gehen wir essen. Beim Italiener.

So gehen die vier Tage ins Land, und jeder Tag ist rund und schön. Es sind Tage, geschaffen vom Herrn. Ja, der Mann versteht sein Geschäft! Aber schließlich naht der Freitag. Was ist am Freitag? Die Lieblingspastorin kommt von ihrer Fortbildung zurück. Vorfreude.

Vor der Freude aber ist der Kummer: Wir müssen aufräumen. Alles liegt voll Müll, schmutziges Geschirr steht stapelweise in praktisch allen Räumen, der Hund ist zottelig, der Meerschweinchenstall stinkt wie das Schlafzimmer, die Treppe ist klebrig vom Kleister, überall liegen Kunstwerke herum und leere Bierflaschen. Und das Kinderzimmer, oha, flächendeckend zugerümpelt. So geht das nicht! „Wie macht Mama das, wenn sie aufräumt?“ „Zuerst schmeißt sie alles Wertvolle weg!!“

Nach vielen Stunden haben wir alles Wertvolle weggeschmissen. Drei weniger wertvolle Dinge mussten wir später wieder aus dem Müll raussuchen, darunter ein Meerschweinchen. Das war so verfilzt, das hatten wir aus Versehen für eine verknäuelte, kaputte Kinderstrumpfhose gehalten.

Da rollt das rote Auto auf den Hof. In der Diele riecht es nach Klebstoff. In letzter Sekunde entdecke ich noch eine leere Bierflasche unter dem Sofa.

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