Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundsieben
Zahn um Zahn

Gesicht waschen und Zähne putzen, Zahnhygiene war schon zu biblischen Zeiten angesagt, wie uns Matthäus berichtet: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und fährt fort: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt!“

Doch mit dem Widerstreben fängt es ja schon an. Ich kenne Berichte anderer Eltern, deren Kinder nicht Zähneputzen wollen, Berichte von Leid und Schmerz und Gram: Friedliche Kinder mutieren zu gewalttätigen Monstern, Fünfjährige werden in Ketten ins Bad geführt und brechen – Auge in Auge mit ihrer Bürste – schreiend zusammen. Und dergleichen Geschichten mehr, wie sie alle Eltern erzählen und dabei gerne übertreiben, was wir natürlich niemals tun.

Bei uns geht’s ohne Ketten. Zwar wird der Badezimmerspiegel regelmäßig von oben bis unten mit Flugzahnpasta eingedeckt. Und schickt man das Kind alleine nach oben, dass es sich bettfertig mache, so klafft zwischen Zähneputzen netto und Zähneputzen brutto eine erhebliche zeitliche Lücke. Aber sie macht’s, und also sind wir’s zufrieden.

Der Kindergarten hilft mit, hier wird nach dem geselligen Frühstück ebenfalls geputzt – „von rot nach weiß, immer im Kreis, innen wischen, den Zahn erfrischen“. Und vor einigen Wochen war Tag der Zahngesundheit, der im Kindergarten mit einem Puppentheaterstück samt Hexe und Krokodil begangen wurde.

Letzte Woche stand nun der jährliche Besuch bei der Zahnärztin der nächsten Kleinststadt im Kalender. „Juhuu!! Ich geh zur Zahnärztin!!“ Da lacht das Papa-Herz, haben wir das nicht gut hinbekommen? Das Kind freut sich auf die Zahnärztin! Fragen Sie mal nach den ersten, nun ja, tief schürfenden Erfahrungen nach, ob die Begeisterung anhält oder das Kind danach vielleicht in Ketten vorgeführt werden muss.

Auf dem Weg zur Praxis offenbarte sich dann allerdings auch, warum das Kind so begeistert ist: „Weil, Papa, die Zahnärztin hat so eine Dose, und da sind kleine Geschenke drin für die Kinder.“

Kleine Geschenke für artige Kinder. Seufz. Die Welt funktioniert nicht ohne Lohn, Geschenke, Geld, Präsente. Nebenbei: Ich war als Knab’ regelmäßig Gast bei einer Kiefernorthopädin, bei der es nach der Untersuchung ein großes Stück Schokolade gab. Fand ich selbst als Jugendlicher schon etwas seltsam. Was mich natürlich nicht daran gehindert hat, mich zu bedienen.

Das Kind turnt also bereitwillig auf den Untersuchungsstuhl, öffnet den Mund weit, die Ärztin spiegelt und sprüht und stochert und ist zufrieden. Das Kind hopst erwartungsvoll wieder vom Stuhl. Und darf sich bedienen, ein funkelndes Steinchen. Immerhin keine Schokolade. Ich frage die Ärztin noch, wann das denn eigentlich so losgeht mit den Wackelzähnen, das ist ja sehr unterschiedlich, manche Kinder verlieren die schon mit vier Jahren, manche erst in der Schule. Die Zahnärztin greift dem Kind noch einmal beherzt in den Rachen, doch, da wackele etwas, minimal. Das Kind ist beglückt – der erste Wackelzah!

„Juhuu!! Mir fallen die Zähne aus!! Ich werd groß!!“ Na ja. Der erste, unten linke Mitte, minimal. Auf dem Rückweg von der Zahnärztin offenbart sich dann allerdings auch, warum das Kind so begeistert ist: „Weil, Papa, wenn einem Kind der erste Zahn im Kindergarten ausfällt, darf es sich etwas aus der kleinen Kiste mit den Geburtstagsgeschenken aussuchen!!“

Hätte mich auch gewundert.

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