Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundacht
Alle Jahre wieder

Adventszeit. Zeit der Erwartung und Zeit des Feingebäcks. Dies ist nun schon die dritte Adventszeit, die Sie das Kind begleiten! Gehen wir kurz mal rüber ins Archiv und schauen wir in die alten Geschichten hinein.

Alle Jahre wieder, und nichts wie es war. Vor zwei Jahren, da war das Kind erstmals im Spatzenchor tätig, und adventliche und weihnachtliche Lieder erschollen im Haus leider schon im frühen November, denn das Kind war sangesfreudig und musste für die Seniorenadventsfeier üben. Und die ist Anfang Dezember. Sangesfreudig ist das Kind immer noch, und die Seniorenadventsfeier ist natürlich auch in diesem Jahr Anfang Dezember. Also erschallen die Lieder.

Unter anderem auch die, über die nur Kinder sich schlapp lachen können, bar jeden Sinnes: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, die Oma sitzt im Kofferraum. Der Opa lacht, die Polizei, die Polizei fährt nackidei, o Tannenbaum, o Tannenbaum!!“ Immerhin wird dieses Lied nicht auf der Seniorenadventsfeier gesungen. Höchstens hinter der Bühne.

Alle Jahre wieder, und nichts wie es war. Vor einem Jahr, da war die Rede von unserem familiären Keksbacknachmittag und den herrlich duftenden Keksen in drei großen Dosen, kindersicher und hundesicher. Und wie wir den Urgroßeltern davon mitbrachten und von unserem Backfestival berichteten und sich auf Uromas Augen der Glanz vergangener Zeiten spiegelte, als sie zu meiner Frau sagte: „Wie damals, als du ein kleines Kind warst...“ Nichts wie es war, und Uropa ist verstorben.

Vor einem Jahr war allerdings auch die Rede von Pia, die im Advent Geburtstag hat und bei der die eingeladenen Kinder von der Feier so viele Naschi mit nach Hause brachten, so dass wir uns eigentlich den ganzen Aufwand mit Adventskalender und bunten Tellern komplett ersparen könnten. Übrigens ist das Kind dieses Jahr wieder bei Pia eingeladen.

Nebenbei, „Naschi“ ist ein dämliches Wort – für Nicht-Eltern: gemeint sind Süßigkeiten, Diminutiv von Naschkram. Ein Wort, das wir nicht mögen, das aber alle Kinder verwenden und das wir folglich auch verwenden. Manchmal begehre ich noch auf und rede von „Süßigkeiten“ und „Feingebäck“, und dann guckt mich das Kind an: „Meinst du Naschis??“ Ja, meine ich.

Überhaupt Adventskalender. Alle Jahre wieder, und nichts wie es war. Mit lässiger Handbewegung lagert das Kind rücklings auf der Sofalehne, wedelt mit den Beinen und berichtet der Oma ins Telefon, dass sie einen Adventskalender bekommt, „da sind so Spielsachen drin und Naschis.“ Gut, letztes Jahr gab es einen Adventskalender und vorletztes Jahr auch. Und da der Mensch ein Gewohnheitstier ist und weil ein Kind wiederum ja auch ein Mensch ist, denkt mein Kind jetzt natürlich, dass es dieses Jahr wieder einen gibt. Würde ich auch denken. Und natürlich bekommt das Kind auch einen, aber die Nonchalance, mit der sogar über die Inhalte eines an sich noch nicht mal existenten Adventskalenders referiert wird, ist schon provozierend. „Vielleicht, mein Schatz, vielleicht bekommst du einen Adventskalender...“

Abends, im Bett, dann doch leise Zweifel. „Papa?? Papa, ich will dir was ins Ohr flüstern. Papa, bekomme ich einen Adventskalender??“ Der Hauch einer Kinderfrage, der Hauch aller Kinderfragen an meinem Ohr. In meinem Herz.

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