Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundneun
Es tönen die Lieder

Advent, Zeit des Singens und Tönens! Unsere Große hat begonnen, sich für Zahlen und Zeichen zu interessieren, für Buchstaben, Hieroglyphen und Noten. Und gerade im Gesangbuch in der Kirche gibt es so viel von alldem! Nun sind wir natürlich aus dem Gröbsten raus, und im Gottesdienst wird das Gesangbuch nicht mehr im Minutentakt auf den Fußboden geworfen. Dafür ist jetzt der Ganzlütte zuständig. Für die Große gibt es eine viel bessere Beschäftigung: „Papa, ich blätter!!“

Praktischerweise stehen die Adventslieder alle hübsch vereint an vorderster Stelle. Das Kind schlägt also das Buch vorne auf, Lied Nummer 1, und gleich können wir im Festgottesdienst lossingen, „Macht hoch die Tür, die Tohor macht weit“. Dann kommen ein bisschen Text und ein Gebet und so, da kann das Kind schon mal weiterblättern, weil es die Tafel an der Wand natürlich kennt und die nächste Ziffer ohne weiteres lesen kann, wir singen Lied Nummer 8, „Es kommt ein Schiff gelahahaden“. Dann aber kommt ein Psalm, im Wechsel zu sprechen, „Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch“, leider kann ich ihn nicht mitsprechen, denn das Kind blättert und blättert, bis Nummer 712 ist der Weg weit, ich darf GAR nicht blättern, da ist der Psalm schon zu Ende, das Kind muss gleich wieder rückwärts blättern, „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nihicht mehr fern“, Lied Nummer 16.

Zeit des Singens und Tönens. Adventslieder gibt’s nicht nur im Gottesdienst, sondern auch auf der alljährlichen Seniorenadventsfeier. Traditionell tritt zur Unterhaltung der Altvorderen die Feuerwehrkapelle auf und der Turnverein und eben der Spatzenchor. Vorab wird einmal pro Woche im Gemeindesaal geübt, die Generalprobe geht schön schief, wie man es von einer Generalprobe erwartet, und einen Tag vor dem großen Ereignis fragt die Lieblingspastorin, wer von den Kindern des Spatzenchors denn auf der diesjährigen Feier auch ein Gedicht aufsagt. Das Kind, locker aus der Hüfte: „Ich!!“

Wie schön, mein Schatz, dass du dein Wissen gut eine Woche für dich behalten hast, so haben wir jetzt GAR keine Zeit mehr, das Gedicht mit dir zu lernen. Immerhin ist es nicht „Lieber guter Weihnachtsmann“, sondern „Die drei Spatzen“ von Morgenstern. Passend für einen Spatzenchor und so schön genetivisch: „Sie hör'n alle drei ihrer Herzlein Gepoch“...

Die Stunde naht, die Senioren sind einträchtig im Saal versammelt, die Herzlein der Spatzen pochen, das Kind kichert ins Mikro und spricht dann vernehmlich zumindest den größeren Teil des Gedichtes, und vorher und hinterher singen alle gemeinsam viele Lieder. Und die kleine Züntia darf dann „Lieber guter Weihnachtsmann“ aufsagen.

Das war gestern. Spatzenchor war gestern. Der Blick richtet sich nach vorn, Advent ist die Zeit des Singens und Tönens, aber eben auch die Zeit der Erwartung und Vorfreude. Freust du dich auf Weihnachten? Doooch... Und auf deinen Geburtstag? Doooch... Die wahre Vorfreude des Kindes richtet sich auf den Januar. Wie kann das sein?

Aber das ist doch klar: Ende des Jahres wird unsere große Lütte sechs Jahre alt. Mit sechs Jahren darf sie endlich in den Kinderchor. Und der Kinderchor, das ist ja nun wirklich das Allergrößte und nur für die Großen. Spatzenchor gut und schön, aber Kinderchor! Kin-der-cho-hor!

Also bitte.

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