Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

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Folge einhundertundzehn
Weihnachtsvirus

 

Wenn man sich als Vater auf offener Straße ein wenig umhört, was andere Väter so erzählen über die Freuden des Vaterseins, dann bekommt man immer wieder Sätze zu hören wie diese hier: „Als Papa darf man endlich wieder stundenlang mit Lego spielen!“ oder „Ich kann meine alte Carrera-Rennbahn wieder aufbauen!“ Männer...

Gerade die Weihnachtszeit ist die Zeit, in der wir Erwachsenen mehr Zeit für Kinder haben möchte (und dann oft nicht haben). Zudem wollen wir uns in diesen Tagen dem gemeinsamen Spiel zuwenden, eigentlich.

Weihnachtszeit ist aber auch Bastelzeit. Landauf und landab werden Kisten mit Eisenbahnen aus Schrankwänden gezerrt, Schienen zusammengesteckt, Lokomotiven aufs Gleis gesetzt. Vielleicht liegt unterm Weihnachtsbaum ja die Schachtel mit dem einen Güterwagen, der schon immer fehlte.

Die Carrera-Rennbahn fand ich als Kind langweilig, aber im Keller hatte ich auch eine Modellbahn. Die hatte mein Vater mit mir aufgebaut, ein doppeltes Oval und drei Lokomotiven und viele Waggons und ein Wäldchen mit Rehen und eine Gärtnerei und einen Bahnhof natürlich und eine Stadt und, klar, auch eine Kirche. Leider hatte mein Vater viel Beruf und wenig Zeit. Wenn er mal Zeit hatte, war gerade Sommer, dann wollte er nicht unbedingt in den Keller, sondern lieber raus in die Natur. Oder es war gerade Weihnachten, und dann wollte er auch nicht in den Keller.

Jedenfalls hatte ich irgendwann genug von väterlichen Ankündigungen und studierte Broschüren, Kataloge und Betriebsanleitungen. Nachdem ich die erste Weiche korrekt an Schalter und Trafo angeschlossen hatte, war mein Vater, glaube ich, überhaupt gar nicht mehr im Keller. Später baute ich weiter und größer, und vor allem plante ich weiter und größer.

Weihnachtszeit ist Bastelzeit und die Modellbahn ist viral. Männer wissen das. Schöpfergeist und Allmachtsphantasien und so. Spaßeshalber hole ich die Kisten mit meiner alten Eisenbahn vom Dachboden, um festzustellen, ob das Virus noch aktiv ist. Meine Große beobachtet mich ganz genau. Ich stecke ein paar Gleise zusammen, krame einen Trafo hervor, siehe da, es geht doch nichts über Wertarbeit: Die alten Lokomotiven knirschen ein wenig und rollen dann tatsächlich los. Das Virus lebt, ich bin begeistert!

Meine Große sieht die Eisenbahn an, meine Große sieht mich an. „Ich will auch mal!!“ Der reine Imperativ. Kurzerhand lege ich ein übrig gebliebenes Regalbrett auf den Wohnzimmerfußboden, nagel ein Schienenoval samt Abstellgleis darauf, stelle eine Lokomotive auf die Räder, an der auch eine Fünfjährige nichts abbrechen kann, weil nicht viel dran ist, dazu noch einige Waggons, an denen schon alles abgebrochen ist. Meine Große klebt mit Hingabe Gras auf und ein paar Bäumchen. Und dann darf sie selbst die Lokomotive in Betrieb setzen. Das Virus lebt, sie ist begeistert!

Zufälligerweise wird da der Ganzlütte von der Lieblingspastorin direkt neben die Gleise gelegt, weil sie mal kurz ans Telefon oder sonst wohin will, ich kann jetzt nicht zuhören, weil wir gerade einen Kurswagen rangieren. Die Große pfeift auf ihrer Trillerpfeife, ich drehe am Trafo, und als dann die V 160 vorbeirollt, bekommt der Kleine große Augen. Also so richtig große, normalgroße Babyaugen hat er sowieso.

Ich glaube, wir drei haben eine ganz große Karriere als Eisenbahner vor uns. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

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