Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundelf
Ich kann alles

Es gibt ein nettes Buch von Astrid Lindgren, „Lotta kann fast alles“. Zumindest denkt Lotta das ... Doch mit ihren kurzen Kinderski Slalom fahren im Schnee, das kann sie nicht. Sonst kann Lotta alles. Warum? Weil sie sich alles zutraut! Wenn wir Erwachsenen im kleinkindlichen „kann ich auch!“ tönende Angeberei hören, meinen die Kinder eigentlich nur: „trau ich mir zu! mach ich auch! lern ich jetzt!“ Und das ist eigentlich ja ein schöner Zug. Wir Erwachsenen sollten uns auch mehr zutrauen, dann würden wir vielleicht mehr auf die Beine stellen. Oder die Welt mal ordnen oder so.

Jenseits aller Theorie: Manchmal ist es eben DOCH Angeberei und auch genau so gemeint. Seit meine große Lütte das Buch kennt, bekommen wir es auch gesagt: „Ich kann alles!!“ Wenn es zu doll tönt, murmele ich „außer Slalom“ vor mich hin, und schon ist alles geklärt. Fast alles.

Also will das Kind jetzt unbedingt auch Slalom fahren, weil es erst dann wirklich ALLES kann. Nun liegt in Norddeutschland selten so viel Schnee, dass man Skier auspacken kann, aber es gibt eine Alternative. Sie stand auf dem Wunschzettel sogar VOR dem Prinzessinnenschloss in knallrosa, und das will etwas heißen bei einem kleinen Mädchen: Inliner.

Inliner? Ältere wie wir Eltern kennen das als Rollschuhe. Und wie wir alle wissen, gibt es Rollschuhe schon seit etwa 1760 − mit Rollen hintereinander. Das waren also keine Rollschuhe, sondern Inliner. Um 1850 wurden die Rollerskates entwickelt, die Rollschuhe mit Rollen auch nebeneinander. Um 1990 kamen die Inliner wieder in Mode: Eishockeyspieler waren auf der Suche nach einem sommerlichen Trainingsgerät, und aus dieser Intention heraus wurden die Inliner neu entwickelt. Heute brauchen nordfriesische Fünfjährige sie, um Slalom fahren zu können.

Nun lagen diese Inliner also unter dem Weihnachtsbaum, wurden umgehend angeschnallt samt Knieschoner und Handschoner und allem. Doch, wir haben den Rest des Heiligen Abends ohne Blessuren überstanden, knapp. Und selbstverständlich standen diese Inliner in der Weihnachtsnacht auch vor dem Kinderbett. „Papa, kommst du nachher noch mal an mein Bett??“ „Aber ja, mein Schatz, das tu ich jeden Abend!!“ „Guckst du auch, ob meine Inliner noch da sind??“

Selbstverständlich mussten die Dinger mit auf die Weihnachtsreise zu den Großeltern, wurden dort der weiteren Familie vorgeführt, wurden auf der kleinen Straße und am Deich Probe gefahren. Aber was heißt „Probe fahren“? Wir Eltern dachten mit Grauen, dass wir unser Kind Wochen lang Stunden lang links und rechts am Arm packen müssten, bis sie halbwegs auf den Dingern stehen kann.

Aber nein, einmal draufstellen, einmal hinfallen, ein wenig festhalten, einmal die kleine Straße halb hin und halb zurück. Stolz auf die ersten Meter ganz alleine, „du musst mich loslassen!!“. Noch einmal hinfallen. „Ihr sollt jetzt nicht reden, ich muss mich konzentrieren!!“ Zwei Sekunden später, voller Stolz über die zurückgelegten drei Meter, „Ihr sagt die ganze Zeit nicht mal ‚Super!!’!!“

Doch, mein Schatz, das sagen wir. Das Kind fällt noch einmal, stützt sich aber im Fallen korrekt ab. Steht wieder auf, rollt weiter. Rollt alleine. Noch nicht elegant, aber irgendwie auch doch. Kinder können das. Sofort bin ich neidisch.

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