Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

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Folge einhundertunddreizehn
Unberechenbar!

 

Denn das sind sie, die Kinder: ganz schön unberechenbar! Und trotzig! Preisfrage: Wie wird man ein Kind wieder los? Antwort: Ganz einfach. Ein paar freundliche Worte, eine minimal Aufforderung, schon bekommt man zu hören: „Dann bin ich eben GAR nicht mehr dein Kind!!“ So einfach ist das. Der reine Trotz.

Jetzt hat das Kind ein Buch geschenkt bekommen mit dem schönen Titel „Lotta zieht aus“. Von einer gewissen Frau Lindgren. Seitdem schließe ich nicht nur abends die Haustür ab, klar, sondern auch des Kindes Kleiderschrank. Denn die Lotta in dem Buch zerschneidet in einer Trotzphase den schönen, aber angeblich kratzigen weißen Wollpullover. Und ich möchte nicht, dass mein Kind es ihr in der nächstbesten eigenen Trotzphase nachtut. Übrigens zieht die Lotta in dem Buch dann aus dem elterlichen Haus aus. Das möchte ich auch nicht.

Das macht das Elternleben anstrengend: die Tatsache, dass wir nicht in die Zukunft sehen können. Damit meine ich jetzt nicht die Frage nach Glück und Liebe und Job und Geld und Tod und Gott, sondern die Frage nach der Reaktion meines Kindes auf eine beliebige Belanglosigkeit.

Eine beispielhafte Belanglosigkeit ist eine freundliche Bitte wie „Kannst du dir noch mal eben die Hände waschen?“, geäußert unmittelbar nach dem Kindergarten und unmittelbar vor dem Mittagessen, altes Kulturgut also zu einem keineswegs überraschenden Zeitpunkt. Macht das Kind ja auch jeden Mittag und hat die Notwendigkeit längst eingesehen, ist ja nicht doof. Lassen Sie Ihr Kind einfach ab und an mal an den eigenen Händen riechen, unmittelbar nach dem Kindergarten, es funktioniert. Übrigens sogar bei Erwachsenen, aber das ist eine andere Geschichte.

In den Sekunden nach Äußerung dieser beispielhaften Belanglosigkeit muss ich mit folgende Reaktionen rechnen: (a) Schreien und Stampfen. (b) Verbale Gewalt der Klasse „Du Blödmann!!“ (c) Klare Verweigerung der Klasse „Nein!! Das mach ich GAR nicht!!“ (d, immerhin relativ selten) Körperliche Gewalt, also Ausholen mit dem Fuß Richtung väterlichem Schienenbein oder Ausholen mit der kleinen Faust Richtung väterlichem Oberarm. (e) Reine Freundlichkeit: „Ach ja, danke, dass du mich daran erinnerst!!“ (f) Herablassung: „Papa!! Das weiß ich doch!!“ (g) Umsetzung meines Wunsches, noch bevor ich den Wunsch überhaupt zu Ende formuliert habe.

Bin ich jetzt ein nörgelnder Papa, der keine Geduld mit seinen Kindern hat? Nein, alles falsch, zurück auf Los! Denn das ganze ist ja auch eine herrliche Show, mitunter sogar eine Performance. Wenn eine Sechsjährige, die gesund und munter ist und eigentlich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sich benimmt wie, na ja, wie eine gesunde Sechsjährige eben – dann ist das auch komisch.

Während ich des Abends diese Zeilen schreibe, besinne ich mich und denke nach über mich selbst. Und erinnere mich daran, wie ungeduldig, ja geradezu trotzig ich heute war, als mein Kind beim Abendessen mit der Hühnersuppe herumkleckerte. War gar nicht schlimm, aber mich hat es genervt. Weil ich müde war, den Kopf woanders hatte, weil sonst was. Und ich erinnere ich mich auch daran, dass wir heute Morgen beim Frühstück gemeinsam herzlich gelacht haben, weil wir alle mit Müsli und Milch gekleckert haben.

Ganz schön unberechenbar, diese Eltern.

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