Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundfünfzehn
Beutelkunst

Fünf vor zwölf. Soll ich gehen? Gehe ich jetzt, bin ich zu früh. Und es dauert und dauert. Gehe ich später, kommt er zu früh. Und nimmt mein Kind mit.

Also gehe ich jetzt. Schließlich will ich mein Kind nicht am Heckfenster winken sehen, sondern es in meine väterlichen Arme schließen. Und bin zu früh. Ich stehe neben der „Alten Eiche“ und fröstele. Ein Wind geht, der alten Eiche fällt ein allerletztes Blatt ab. Es beginnt zu nieseln.

Das Kind fährt mit dem kleinen Kindergartenbus ins nächste Großdorf und kommt mittags von dort zurück. Und ich warte. Na ja, irgendwann kommt der Bus natürlich und das Kind hüpft an meinen väterlichen Armen vorbei, weil es so gut gelaunt ist. Oder weil es so schlecht gelaunt ist.

Oder es hüpft gar nicht. Denn seit einiger Zeit „versteckt“ es sich: Der Bus kommt, die Tür öffnet sich, allein: Die blaue Mütze meines Kindes ist nirgends zu sehen. Ich rufe mein Kind, irgendwo höre ich es kichern, die kleine freche Züntia sagt „dein Kind ist WEHEG!“, da wird aus Kichern schon Gelächter, und wenn ich guter Laune bin, spiele ich das Spiel mit, ich rufe und bettle und alle Kinder kreischen vor Vergnügen.

Letzte Woche habe ich den Spieß mal umgedreht und dem Busfahrer mit einigen Handzeichen zu verstehen gegeben, dass er weiterfahren solle, schließlich war mein Kind ja nicht dabei. Wäre auch kein Problem gewesen, ich hatte das Fahrrad dabei und bis zur nächsten Haltestelle mit wartenden Eltern sind’s zweihundert Meter. Der Busfahrer grinste, zischend schloss sich die Tür. Oha, da war mein verstecktes Kind aber sehr schnell wieder vorhanden und vorne an der Tür!

Wenn ich das Rad dabei habe, sitzt das Kind im „Damensitz“ auf der Stange, annähernd freihändig: In der einen Hand hält es die Beutelkunst, in der anderen Teddy. Wenn der dabei ist, mit der Betonung auf wenn. Denn manchmal bleibt er im Bus liegen oder ist der Einfachheit halber gleich im Kindergarten vergessen worden.

In früheren Zeiten, als unsere Große noch eine Kleine war, sind wir dann mit dem Auto ins Großdorf gefahren, um Teddy abzuholen. Keine gute Ökobilanz, so ein Teddy, zwölf Kilometer für ein Stofftier. Allerdings ist die heimische Ökobilanz auch nicht gut, wenn das Kind den Rest des Tages schluchz und hernach ohne Teddy GAR nicht einschlafen kann. Heute sind wir alle – das Kind und sogar ich – geringfügig gelassener. Wird Teddy vergessen, bleibt er eben im Kindergarten bis morgen. Außer freitags, natürlich.

In der anderen Hand hält das Kind nicht etwa seine Kindergartentasche, die hat es im Kindergarten gelassen, weil es keine Hand mehr frei hatte. Denn in der anderen Hand ist die tägliche Beutelkunst. Ein ziemlich großer Plastikbeutel – 35 Liter – mit den im Kindergarten angefertigten Kunstwerken, unter DIN-A-3 läuft da gar nichts. Den Beutel bekommt das Kind im Kindergarten für seine Werke, weil es selbstverständlich JEDEN Tag ALLE Werke mitnehmen muss.

Ich liebe die Beutelkunst, sie ist so praktisch! Zuhause werden die schönen und die weniger schönen Kunstwerke umgehend abgelegt, verteilt, irgendwo hingestopft. Das ist weniger praktisch, zugegeben. Aber den leeren Plastikbeutel bekomme ich, und das ist sehr praktisch: Weil das Kind so produktiv ist, muss ich seit fast zwei Jahren keine Mülleimerbeutel mehr kaufen.

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