Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertsechszehn
Memory

Letzte Woche war an dieser Stelle vom Kindergartenbus die Rede, von Teddy und der Beutelkunst, vom Vergessen und Verlieren. Heute nun ist etwas Schreckliches passiert: Das Kind hat die Beutelkunst im Kindergarten vergessen!

Nun werde mich nicht entblöden, für einige Kinderkunstwerke zwölf Kilometer Auto zu fahren. Außer freitags, natürlich. Aber heute ist Donnerstag. Und ein kleines Kind muss auch lernen mit Verlust umzugehen, Dinge zu verlieren. Es muss übrigens auch lernen, Spiele zu verlieren. Geht beides GAR nicht, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen:

Am Wochenende ist das Kind krank, nichts Ernsthaftes, nur so ernsthaft wie ein Magen-Darm-Infekt eben sein kann. Am nächsten Tag geht’s schon ein wenig besser: Das Kind auf dem Sofa, halb liegend, halb sitzend, leicht fiebrigen Blickes. Es versucht mich mit schwachem Aug’ zu fixieren. Es murmelt: „Ich will jetzt Memory spielen!!“ Schon die Vorstellung, im kranken Zustand überhaupt irgendetwas spielen zu müssen, lässt mich schaudern. Von Memory ganz zu schweigen.

Dabei ist Memory so ein schönes Spiel. Zum Beispiel, wenn man es am Computer mit sich selbst spielt: Kein Sieger, kein Verlierer. Und es gibt bekanntlich nichts, was es nicht gibt: Herrenmemorys mit nur geringfügig bekleideten Damen, Mädchenmemorys mit im Mondlicht zart silbrig schimmernden Einhörnern. Sie glauben mir nicht? Und es gibt beide. Moderne Zeiten. Doch echte Memorys aus Pappe gefallen mir besser.

„Ich will jetzt Memory spielen!!“ Was tut Mann nicht für ein krankes Kind. Aber ich habe kein gutes Gefühl. Immerhin ist das Kind krank, hat sich vor wenigen Stunden noch so richtig ausgekotzt, kann kaum sitzen. Ich mache den Vorschlag, vielleicht doch lieber gemeinsam etwas zu malen ... etwas ohne Sieger und Verlierer ... um den Genesungsprozess nicht zu stören ...

„Ich fang an!!“ Nee, schon klar, mein Schatz, hättest du jemals nicht angefangen? Das Kind beginnt also, kein Paar. Dann ich, und gleich ein Zufallstreffer. Ich darf noch mal. Bald geht es zügig hin und zügig her. Bald sieht es sehr gut aus für mich. Nach wenigen Minuten habe ich schon zwölf Paare, das Kind hat zwei.

Allein, professionelle Eltern wissen, was jetzt kommt: Das Kind schluckt, wischt sich die aufschimmernden Tränen aus den Augen und macht ernst. Und gewinnt. Natürlich gewinnt es. Kinder gewinnen beim Memory immer.

Die nächste Runde gewinnt das Kind noch deutlicher. Die Stimme ist schon fester, der Blick weniger fiebrig. „Papa hat verloooren!! Papa hat verloooren!!“ Ich stelle mir vor, dass ich – gewönne ich nur einmal – ähnlich singen würde. Oh, der Tränen Fluss fände kein Ende!

Wir machen eine kleine Pause. „Du kannst nie gewinnen!!“ Das hätte nicht gesagt werden dürfen, mein Ehrgeiz ist geweckt! Ich achte auf meinen Atem, versuche meine Mitte zu finden, mich zu konzentrieren. Wir spielen. Ich verliere. Ich atme, ich finde meine Mitte. Wir spielen weiter. Ich verliere weiter.

„Ich mach hier den Abräumer!!“, tönt es vom Sofa. Und räumt ab: Am Ende des Nachmittages, als ich erschöpft eher liege als sitze, hat das Kind von zehn Runden sieben gewonnen, dreimal gab es ein Unentschieden. „Du kannst nie gewinnen!!“ Ein erfolgreicher Genesungsprozess.

Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl im Bauch.

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