Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge einhundertsiebzehn
Das Paradies

Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.

 

Ab und zu tut es bekanntlich gut, sich auf Grundsätzliches zu besinnen. Es ist nicht nur erbaulich, über Gott und das Paradies und die Hölle nachzudenken, es erleichtert auch den Alltag. Setzt ihn ins Verhältnis zum ganzen Sein. So wollen wir in dieser und in weiteren Folgen einige Blicke wagen auf grundsätzliche christliche Vorstellungen und Fragen und all diese ins Verhältnis setzen zum Alltag zwischen Kindergartenbus, Wickelkommode und Abwasch.

Heute wird berichtet, wie bei uns im Haus das Paradies entdeckt wurde. Was aber ist das „Paradies“? Was ist das Paradies für Sie? Wir haben da ja recht unterschiedliche Vorstellungen. Autos, Freibier, Frauen. Man denkt, dass man sich auf eine Grundinterpretation einigen könne. Aber nix da.

Fragen wir beispielsweise ein knapp neun Monate altes Baby. Auf die Frage „Sag, was ist für dich das Paradies?“ wird es antworten: „Da!! Dadada!!“ Dann aber wird es Ihnen zeigen, was paradiesisch bedeutet, in dem es hinrobbt und es benagt: Kabel jeder Art, am liebsten Computer-Kabel, Windeleimer, Müllbeutel, die müffige Matte vom Hund, den Sack mit dem Meerschweinchenfutter, sämtliche Bücher in der unteren Reihe des Regals. Und Klobürsten, klar.

Das Paradiesische daran ist nicht die Klobürste, sondern dass Sie es lassen. Meistens lassen Sie es natürlich nicht. Aus Sicherheitsgründen, aus hygienischen Gründen, aus prinzipiellen Gründen. Und weil Sie heute noch mehr vorhaben als nur zu räumen und zu wischen.

Vor ein paar Tagen war es, ich sauge Staub und denke dabei über grundsätzliche christliche Vorstellungen und Fragen nach. Der Ganzlütte robbt hierhin und dahin und kommt mir ständig in die Quere und ich ihm natürlich auch. Dann werfe ich einen optimistischen Blick ins Zimmer meiner großen Lütten, aber das ist klar zu sehen: Hier wäre ich bestenfalls mit einem Industriestaubsauger erfolgreich. Knöchelhoch!

Tja, und dann habe ich die Tür wohl nicht ganz geschlossen. Jedenfalls wende ich mich unserem Schlafzimmer zu, der Sauger dackelt artig hinter mir her, der Ganzlütte allerdings strebt umgehend in der Gegenrichtung an mir vorbei, ich denke mir nichts. Neunzig Sekunden später denke ich mir doch etwas. Ja, er hat die nicht ganz verschlossene Tür sofort gesehen. Und er ist schnell, wenn er ein Ziel hat: Das Zimmer der großen Schwester! Dahin möcht man robben, darin möcht man robben, sich wälzen und ALLES benagen. Auch den alten Rest eines alten Käsebrotes dort unter dem Regal.

Vorsichtig schaue ich um die Ecke. Da hockt er im Zimmer der großen Schwester. In der linken Faust eine Barbie, in der rechten Faust ein Käsebrot. Der Windelpo lagert im Zootierezoo (das gibt Ärger!), im Gesicht klebt Tusche, er kaut hingebungsvoll auf einem Gemälde. Seine Augen aber, oh, Sie hätten seien Augen sehen sollen. Groß sind sie ob all dieser Herrlichkeiten, all dieser Dinglichkeiten, all dieser Klebrigkeiten! Sie leuchten, die Augen. So sehr.

Wir sind um eine Erkenntnis reicher. Das Paradies ist das Zimmer einer Sechsjährigen, knöchelhoch. Irgendwie habe ich es immer geahnt.

zurück