Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertachtzehn
Perlen in der Hölle

Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.

 

Nicht nur im Kinderspiel „Himmel und Hölle“ liegt beides dicht beieinander, Ihnen fallen da Beispiele aus eigenem Erleben ein. Den Satz „Es war die Hölle!“ nehmen wir gern in den Mund, gedankenlos meist, erschöpft meist. So wie wir neulich: Es war die Hölle! Es war Kindergeburtstag!

Ein Sixpack kleiner Mädchen im Alter zwischen „Ich bin gerade fünf geworden!“ bis „Ich bin schon groß, ich bin schon fast sieben!“ – das eigene Kind genau in der Mitte: sechs. Magische Zahl, magisches Alter. Das Alter, in dem sich Spreu und Weizen trennen. Das Alter, in dem ein Kind einen Schulranzen bekommt (mit im Mondlicht silbrig schimmernden Einhörnern) und eine Federtasche (mit zuckerrosafarbener Prinzessin) und eine Fahrkarte für den Schulbus (ohne Einhorn). Das Fest sollte ein großes werden, galt es doch die magische Zahl zu feiern. Sechs Kinder sollten's sein und also fünf Gäste.

Nach der Begrüßungsrunde mit klassischem Liedgut und Geschenken zieht der ganze Haufen um, das Geschrei ist groß, vor lauter Begeisterung und vor lauter Sechsjährigkeit sowieso. Kuchen, Feingebäck und Apfelsaft stehen in der Küche auf dem Tisch bereit, sind aber bald auch unter dem Tisch erhältlich. Der Hund freut sich sehr.

Zum Singen und Tanzen ziehen wir weiter, ins Wohnzimmer. Das Geschrei ist groß. Wie nebenbei versucht die kleine Züntia ins Puppenhaus zu klettern, ich halte sie sanft ab. Als Chantal und Karlotta den Meerschweinchenstall nebenan entdecken, muss ich erneut eingreife, bevor es Verletzte gibt. Verletzte Kinder, die sich mit Kampfmeerschweinchen nicht so auskennen. Zweifeln Sie, wenn Ihr Zoohändler versichert, Meerschweinchen würden nicht beißen. Beim Topfschlagen wiederum kann man ordentlich zuhauen, gerade wenn man ein kleines Mädchen ist, vielleicht trifft man ja einen fremden Zeh. Natürlich trifft man, das Geschrei ist groß.

Mittendrin das Baby mit großen Augen in seinem Laufstall. Sobald es „Dada!!“ ruft, rennt Doro hin und beugt sich rein, fällt rein. Als Sabrina ein wenig am Bücherregal rüttelt, um es auf seine Standfestigkeit zu prüfen, gehen wir lieber in die Diele. Als die Sechs auf der Suche nach dem Schatz durch die Diele toben, den Schatz zu finden, schreckt der Hund hoch, der wohlig auf der müffigen Matte die einverleibten Kuchenreste verdaut. Chantal versucht umgehend, sich neben den Hund auf die müffige Matte zu kuscheln.

Schließlich kippen wir eine zweieinhalb Kilo bunter Perlen auf den Wohnzimmerfußboden und basteln Armbänder. Selbstverständlich gibt es Geschrei, weil Züntia oder Karlotta sich die zwanzig schönsten Perlen heraussuchen, während Chantal und Doro praktisch völlig leer ausgehen.

Vier Stunden nach Ende der Veranstaltung haben wir das Gröbste beräumt und sinken gedankenlos erschöpft aufs Sofa. Es war die Hölle. Die Hölle, das sind die Anderen, Sartre. Doch Glück gehabt: Beim Kindergeburtstag handelt es sich nicht um eine geschlossene Gesellschaft. Und auch das magische Kind ist glücklich.

Genau genommen war das auch nur die Vorhölle. Die Hölle nämlich ist Fasching, keine vierundzwanzig Stunden später in der Halle des dörflichen Turnvereins. Doch das ist eine andere Geschichte ...

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