Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertneunzehn
Teddy vor Elmshorn

Eben noch war die Welt rund und gut, da wird sie mit einem Mal und ohne Grund so richtig mies. Ein Sturzbach bricht aus dem Kind heraus. Warum nur? Weil sie im Kindergartenbus heute neben Züntia sitzen wollte, der Platz aber bereits besetzt war. Wie kann das sein? Wie darf das sein? Warum ist die Welt so, wie sie ist? Ein Erwachsener kann das nicht verstehen.

Es war schon einmal die Rede davon, dass Bahnfahren mit Kind ein Kinderspiel ist. Denn das Problem ist nicht das Kind. Das Problem ist die notorische Signalstörung bei Elmshorn. Ja, und Teddy ist auch ein Problem, natürlich. Gegen Elmshorn bin ich machtlos, Teddy aber behalte ich scharf im Auge, dass er uns nicht verloren geht.

Wir wollen also zu Oma in die große Stadt und tippeln jetzt zum Dorfbahnhof, das Kind mit seinem kleinen Rucksack und ich mit meine großen Rucksack und Teddy mit seinem blauen Halstuch.

Erste Übung in Geduld – denn nichts anderes sind Bahnreisen ja – ist die Frage, wo Teddy im kleinen Zug gerne sitzen möchte. In einer Zweiernische oder einer Vierergruppe? Mit Tischchen oder ohne? Dann kommt der Zugbegleiter, berät mich im Tarifdschungel und hat auch tatsächlich eine Kinderfahrkarte dabei. Denn zwar ist das Kind inzwischen alt genug, so dass ich für es bezahlen muss – aber eine lustige Kinderkarte mit buntem Bildchen drauf ist ein Muss. „Möchtest du deine Fahrkarten selbst stempeln?“ „Nö!!“ War wohl nett gemeint.

Der kleine Zug, der uns in die kleine Stadt bringt, von wo uns der große Zug in die große Stadt bringt, brummt zwischen Feldern und Wiesen durch den nassen Februar. „Ich hab Sehnsucht nach Oma!!“ Wir sind gerade dabei, genau dieses Problem zu lösen. „Ich hab Hunger!!“ Auch klar, das Frühstück ist schon fast eine Dreiviertelstunde her; ich vertröste das Kind auf später. „Wann sind wir da??“ Auch später. Noch viel später. Fünf Minuten noch.

Dann aber wird es ernst, der kleine Zug erreicht die kleine Stadt: Wir müssen umsteigen. Ich nehme Teddy fest an die Hand, wohlgemerkt: Teddy. Das Kind kann selbst laufen, es kann sagen, woher und wohin und wieso, und es hat alle relevanten Telefonnummern im Kopf. Aber verlören wir Teddy?

Nebenbei: Ich fürchte, die Neigung zum Dinge-irgendwo-liegen-lassen hat das Kind von mir. Ich habe als Kind und später noch auf dem Weg zur Schule so viele Handschuhe in der Bahn liegen lassen, dass meine Mutter an das soundsovielte Paar Handschuhe ein Band nähte und durch die Jackenärmel steckte, so dass sie nicht mehr verloren gehen konnten. Ich fand das enorm praktisch! Leider schnitt meine Mutter das Band irgendwann wieder ab, es war ihr dann doch peinlich, vielleicht, weil ich zu der Zeit schon sechzehn Jahre alt war.

Bis zur Weiterfahrt mit dem großen Zug haben wir noch ein wenig Zeit, und das Kind möchte jetzt in den Zeitschriftenladen, den unser Dorfbahnhof nicht hat. Denn hat Papa nicht immer gesagt, dass Reisezeit auch Lesezeit sei? Vierzehn Sekunden später steht das Kind wieder vor mir, mit einer Kinderzeitschrift: Prinzessin Lillifee und das Einhorn Rosalie. Kein Scherz. Und alles in Knallrosa. Dazu gibt es einen Haarreifen als Dreingabe.

Als ich jung war, gab es eine Zeitschrift mit dem Namen Yps!, und da war immer irgendetwas Hässliches oder Unbrauchbares dabei. Heute baumelt an jeder Kinderzeitung etwas Hässliches oder Unbrauchbares dran, und verglichen mit dem, was sonst im Regal gerade feilgeboten wird, ist der Haarreifen noch richtig gut. Also kaufe ich meinem glücklichen Kind die Zeitschrift und mir nichts, denn ich habe vorsorglich einen guten Roman eingepackt für die Reise. Und darin werde ich auch lesen. Ja, so denke ich tatsächlich.

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