Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge elf
The show must go on

Erinnern Sie sich noch an Weihnachten? Da liegen ein paar bröselige Kringel... Lange her, nicht wahr? Ganze zehn Tage und doch auch irgendwie ein Jahr. Werfen wir noch einen letzten Blick zurück, um für das neue Jahr gewappnet zu sein.

Unsere Befürchtung, dass das Kind böse sein würde für immer, weil der Küster nicht mit Kutsche und ersehnte Hochbett kam, war nichtig. Das Kind sank vor Ergriffenheit zu Boden, als es das Weihnachtszimmer betrat, wegen der Lichter, wegen des Baumes, wegen des Gesangs – und wegen des von Opa liebevollst upgedatetem Puppenhaus, mit dem es die Tage auf das seligste beschäftigt und von dem es des nachts kaum wegzuzerren war.

Wenn ein Kind allerdings am zweiten Weihnachtstag auch noch Geburtstag hat – „MEHR!! Jetzt will ich noch MEHR auspacken!!“ –, dann verhält man sich als bewusste Eltern vielleicht bewusst, aber erklären Sie das mal der gesamten Verwandtschaft. Man ist machtlos dagegen, dass sich die Patentante des Vaters mit einem Mal der Familie erinnerte und einen mittelvoluminösen Playmobilkarton auf die Post brachte. Immerhin passen die Figuren ungefähr zum Puppenhaus. Das ist ästhetisch natürlich gar nicht schön, aber mit Ästhetik kann man einer Vierjährigen nur begrenzt kommen. „Vielleicht können wir hier lieber die Puppen...?!“ „Das kann ich machen, wie ICH es will!!“ Der Ausspruch kommt mir bekannt vor. Alles, was Sie von jetzt an sagen, kann von einer Vierjährigen gegen Sie verwendet werden.

Auch Gesang kann gegen Sie verwendet werden. Das achte Mithören eines Liedes soll entscheidend sein für die musikalische Prägung eines Kindes. So ähnlich wie bei einem Papagei, wenn man dem Liedgut oft genug vorspielt, dann kann er irgendwann die ganze Platte – gegebenenfalls mit allen Kratzern.

Unser Kind war beim entscheidenden achten Durchlauf von „Ihr Kinderlein kommet“ abgelenkt – „Da ist ja auch Lotta! LOTTAAAA!“ – so dass die schöne Familienzeile „Maria und Josef betrachten es froh“ jetzt so lautet: „Maria und Josiff betrachten sich den ganzen Tag“. Das kommt mit dem Rhythmus nicht hin, weshalb auch gleich ein wenig neu komponiert wurde.

Wir haben das einige Dutzend Mal mit angehört und können inzwischen selbst gar nicht mehr anders. „Maria und Josiff betrachten sich den ganzen Tag...“ Fängt man da nicht wieder an, über Marias Jungfräulichkeit nachzudenken? Wenn die beiden einander den ganzen Tag lang in die Augen geschaut haben, von morgens bis abends und dazu noch nachts, wenn es so dunkel ist, dass man schon recht dicht aneinander rücken muss, um den anderen überhaupt zu sehen, ob es da nicht doch sein könnte, dass Maria und Josiff ein wenig, wie soll ich sagen, jedenfalls an und für sich. Und dann fällt einem ein, dass dieser schwerwiegende theologische Hinweis von einem vierjährigen Papagei kam, und schamrot wendet man sich wieder dem Gebet zu.

Ja, so war das am Ende des Jahres. Ganz am Ende war dann auch noch Silvester. Sehr lecker. Wir waren mit Freunden zusammen, das Kind fürchtete sich vor den Knallern, verschlief aber erfolgreich die mitternächtliche Stunde, ich hätte ohnehin keine Hand frei gehabt, denn ich hatte die vor Angst zitternde Jola auf dem Schoß. Und das ist kein Schoßhund, das Vieh wiegt über dreißig Kilo.

Morgens um sieben erklang Gesang. Erst leise, dann immer lauter und lauter: „Maria und Josiff betrachten sich den ganzen Tag...“ The show goes on!

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