Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundzwanzig
Teddy hinter Elmshorn

Wir betreten den Bahnsteig, von dem aus der große Zug in die große Stadt fährt. Gehässigerweise steht dort ein Süßigkeitenautomat, und natürlich ist das Kind fasziniert von den Spiralen, die das gewählte Produkt nach vorne drehen und in die Tiefen des Ausgabefaches plumpsen lassen. Wie ich feststellen darf, nimmt der Automat mein großes Geldstück für ein kleines Kaugummipäckchen gerne an, hat aber gerade kein Wechselgeld zur Hand. Unglaublich, was Kaugummis heutzutage kosten!

Nun sitzen wir im großen Zug. „Jetzt habe ich wirklich Hunger!!“ Also essen und trinken wir. Danach möchte das Kind einen Kaugummi kauen und in seiner neuen Lillifee-und-Rosalie-Zeitschrift blättern. Und ich versuche zu lesen, ich habe mir daheim den spannenden Roman eines nordossetischen Autors der jüngeren Generation eingepackt. Zwei Sätze habe ich schon, beginne gerade den dritten, es ist ein wenig geschachtelt. „Papa??“ Mmmh. „Kannst du mir was vorlesen??“

Aber gerne. Und ziehe das Buch mit pädagogisch wertvollen Kindergeschichten aus dem Rucksack. „Nö, nicht das Buch, sondern das hier!!“ Und hält mir ihre Zeitschrift unter die Nase: eine grenzdebile Bildergeschichte, in der das schöne Einhorn Rosalie von einem gehässigen Floh gepiesackt wird. Wie überhaupt die Macher solcher Zeitschriften uns Eltern piesacken.

Danach immerhin widmet sich das Kind den Ausmalbildern. Vielleicht doch gar nicht sooo schlecht, diese Zeitschrift, denke ich, und greife wieder zu meinem Roman. „Papa??“ Man kann noch so lange unterwegs sein, mit der abwechslungsreichen Folge von vorlesen, auf Klo gehen, essen, trinken, malen und Fragen stellen geht auch eine mehrstündige Bahnfahrt zügig vorüber. Ich hätte mir am Bahnhof den ‚Kicker’ kaufen sollen.

Gemäßigt lautstark trampeln jetzt acht lustige junge Männer durch den Zug und feiern einen Junggesellenabschied. Ach ja, damals... Der Bräutigam ist schottisch gekleidet, die Mitreisenden werden um Spenden und zum Anstoßen gebeten. Das Kind versteckt sich schüchtern hinter meinem Arm, den Teddy fest im eigenen. Halb liegend halb sitzend tut es so, als ob es schläft, aber ich sehe, dass es die Männer beobachtet. Dann raunt es mir zu „Papa, können wir uns in einen anderen Waggon setzen??“ Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien das Kind seine Mitmenschen sortiert, welche ihm sympathisch sind und welche nicht.

Nun aber wird es richtig spannend, der Zug nähert sich Elmshorn! Doch sehr bemerkenswerterweise gibt es keine Signalstörung, wir kommen wenig später pünktlich in der großen Stadt an. Ein paar Stationen mit der S-Bahn noch, dann sind wir bei Oma. Das Umsteigen klappt wieder prima, Teddy hält sich sehr tapfer, er gerät nicht zwischen die Türen, er fällt nicht vom Bahnsteig auf die Gleise. Alles scheint heute zu klappen! Ein schlechtes Omen für die Rückfahrt in ein paar Tagen? Aber wir als Christenmenschen glauben ja nicht an Omen. Vielmehr können wir die Existenz Gottes und seine große Güte als bewiesen betrachtet werden: Teddy ist noch da, wir sind komplett!

Bei Oma ist es schön, wir bekommen Kuchen und Kaffee und Saft, und das Kind ein besonderes Geschenk: einen ganz kleinen Teddy. „Ein Teddy für Teddy!!“, ruft das Kind begeistert.

Ich wage kaum zu ahnen, was das für unsere Rückfahrt bedeutet...

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