Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundeinundzwanzig
Die Plastination Jesu

Als Vater bin ich mit allen gottesdienstlichen Wassern gewaschen – dachte ich bis vor kurzem jedenfalls. Doch kaum hat ein Vater sich in der gerade akuten kindlichen Entwicklungsphasen eingerichtet, beginnt schon die nächste. Die Große ist aus dem Pixi-Alter raus, kann aber selbst noch nicht lesen. Also langweilt sie sich ein wenig, da sie den Ausführungen des Liturgs nicht immer ganz folgen kann. Zum Büchervorlesen während des Gottesdienstes bin ich jedoch seltsamerweise nicht bereit – da ich sonst den Ausführungen des Liturgs nicht immer ganz folgen kann.

Wenn man sich im Gottesdienst ein wenig langweilt, beginnt man natürlich sich umzuschauen, Leute zu betrachten oder gar die sakrale Kunst. Machen Sie ja auch so, oder? Macht eine Sechsjährige wie Sie. Allerdings sitzt die Sechsjährige an diesem Sonntag fast ganz vorne, und ziemlich schräg über ihr hängt die lebensgroße Figur des Gekreuzigten über dem Durchgang zum Chorraum. Ein Hauch: „Papa??“ „Mmmh.“ „Papa, ist das nur eine Figur oder war das mal ein echter Mensch??“ Welch günstige Gelegenheit, kurz den Begriff der Plastination zu erläutern!

Einige weitere Betrachtungen später: „Papa, die Figur hat Brüste wie eine Frau!!“ Ich blicke interessiert hoch – und muss zugeben, aus unserer Perspektive, von ziemlich schräg unten eben, sieht das tatsächlich ein wenig so aus. Noch eine Betrachtung: „Warum hat der Mann, der die Figur gemacht hat, da Blut dran gemalt??“ Na ja, und so weiter. Ich kann den Ausführungen des Liturgs nicht immer ganz folgen.

Und dann ist da ja auch noch der Ganzlütte, den es gilt in Schach zu halten. Der ist aus dem Alter, da er friedlich dösend im Kinderwagen den Vormittag verdümpelte, schon wieder raus und im Pixi-Alter noch nicht drin. Er ist im Runterschmeiß-Alter: seine Mütze, meine Mütze, das Gesangbuch, des Kindes Teddy, den eigenen Teddy, noch jedes hingehaltene Spielzeug und meine Brille am liebsten. Was eben so greifbar ist. Letztlich ist für einen Ganzlütten alles greifbar. Und alles runterschmeißbar.

Wenn von der einen Seite gerade keine Fragen kommen und auf der anderen Seite schon alles runtergeschmissen ist, was runterschmeißbar ist, beobachte ich andere Eltern, falls ich den Ausführungen des Liturgs gerade nicht ganz folgen kann. Wie ungezwungen manche Eltern doch sind im Umgang mit ihren Kindern – um es moderat zu formulieren. Es stört die anderen Gottesdienstbesuche auch ü-ber-haupt gar nicht, wenn Kinder sich den halben Gottesdienst auf dem Boden wälzen, alle Blicke auf sich ziehen und zwischen durch zielstrebig Richtung Altar krabbeln. Klar, die wissen, wo’s langgeht. Jetzt müsste einer der beiden Eltern allerdings mal aufstehen, bevor ... zur großen Erbauung der Restgemeinde krabbelt der liebe Kleine einfach weiter, erklimmt mühsam die – relativ betrachtet – doch recht hohen Altarstufen und zieht sich, gar nicht unelegant, am Antependium hoch, während ihm von oben, eher unelegant, der gut gefüllte Abendmahlskelch entgegen kommt.

Doch zum Glück aller Beteiligten und Unbeteiligten gibt es für solche Fälle den Familiengottesdienst. Was genau es damit aber wirklich auf sich hat und wie das war mit dem abgerissen Arm der kleinen Lara – das erfahren Sie in der kommenden Woche...

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