Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertunddreiundzwanzig
Das rote Telefon

 

Nun gehöre ich nicht unbedingt zu den Menschen, die da sagen: Früher war alles besser. War’s ja nicht. Auch war früher keineswegs alles aus Holz, umgekehrt ist heute nicht alles aus Plastik, und das, was aus Plastik ist, ist nicht immer hässlich. Nicht immer.

Wenn ich gute Laune habe und ein wenig Zeit, dann spaziere ich durch’s Internet und besuche die Internetseite des Spielzeugherstellers M.®. Zu M.® gehören so wesentliche Dinge wie Barbie, Fisher-Price und SpongeBob. Ich mache einen Rundgang durch das sagenhaft bunte Plastikangebot mit vermeintlich lustigen Tiergesichtern noch auf dem popeligsten Teil. Man glaubt ja gar nicht, was man alles verpasst, wenn man sich im Leben auf das Wesentliche besinnt!

Dann küre ich mein Lieblingsprodukt des Monats. Diese Woche ist es die „Babyschaukel Meeresfreunde“, schließlich wohnen wir ja am Meer. Lesen wir kurz in die Produktbeschreibung hinein:

„Unterhaltsam und beruhigend wie ein Urlaub am Meer! Beruhigende Schaukelbewegungen in 6 verschiedenen Geschwindigkeiten sorgen für süße Träume. Dabei sind zwei Schaukelrichtungen einstellbar. Am motorisierten Mobile baumeln vier Plüschfreunde, die Aquariumkugel ist beleuchtet. Die Schaukel spielt acht Melodien und beruhigende Wassergeräusche mit Lautstärkeregelung. Der Sitz mit Kopfstütze kann in eine aufrechte oder zurückgelehnte Position gestellt werden. (4 Alkali-Batterien D (LR20) erforderlich.)“

Sechs Geschwindigkeiten in zwei Richtungen mit acht Melodien in zwei Positionen. Man muss das gar nicht kommentieren.

Übrigens: Die dazugehörende Aufbauanleitung umfasst 44 Seiten (!) und enthält auch so interessante Hinweise, wie man „schwere Verletzungen mit Todesfolge durch Stürze und Strangulation/Verfangen im Schutzsystem“ verhindern kann. Die unverbindliche Preisempfehlung: 149,99 €.

Nach der Produktkür wandere ich hinüber in den virtuellen Servicebereich. Irgendeine unterhaltsame Rückrufaktion läuft bestimmt gerade. Im Servicebereich empfängt mich das Bild eines netten Kindes mit einem roten Plastiktelefon. Wenn man als besorgter Vater in der Zeitung von bleihaltigem Spielzeug liest, möchte man ernst genommen werden und ernsthafte Informationen erhalten von ernsthaften Erwachsenen. Ein nettes Kind mit einem roten Plastiktelefon nimmt mich nicht ernst und passt nicht angesichts der Fakten:

Anfang August 2007 ruft M.® weltweit 1,5 Millionen in China hergestellte Spielzeuge zurück, weil sie mit einer Farbe bemalt sind, die einen zu hohen Bleigehalt aufweist. Der Chef des chinesischen Subunternehmens begeht daraufhin Selbstmord. Die Gewinnbelastung beziffert der Konzern auf 30 Millionen Dollar. Zwei Wochen später, am 14. August 2007, nimmt M.® mehr als 18 Millionen Puppen, Spielzeugautos und andere Spielwaren vom Markt, weil sie verschluckbare Kleinteile enthalten. Das waren die größten, nicht die letzten Rückrufaktionen.

Und dann ist da noch Bob Eckert. Er ist „Chairman & Chief Executive Officer“ der Firma M.® und bringt das wirkliche Interesse des Unternehmens auf den Punkt: „Ihre Kinder sind auch unsere Kinder!“ Ja, das hätte er wohl gerne! Aber nicht mit mir! Und also habe ich beschlossen: Produkte der Firma M.® kommen mir nicht ins Haus!

Da habe ich allerdings die Rechnung ohne die Tagesmutter gemacht...

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