Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundvierundzwanzig
Barbiefrei

 

Beim Mittagessen ist das Kind zappelig wie eine Sechsjährige. Noch kauend stürzt sie in die Mittagspause, „Lelle hat doch heute Geburtstag, ich muss sooo viel vorbereiten!!“ Lelle ist die Puppe aus Folge Nummer neunzehn, sie lebt!

Irgend eine Puppe, irgend ein Kuscheltier hat immer gerade Geburtstag, da wird gefeiert und gesungen und getafelt, dass es nur so eine Freude ist. Das passt zum Jahr, dem Jahr der runden Geburtstage: Der kleine Nick von Goscinny und Sempé wird fünfzig, das Sandmännchen wird fünfzig, und schließlich auch: Barbie. Faltenfrei und so lange Beine. Herzlichen Glückwunsch.

Die erste Barbie im schwarz-weiß-geringelten Badeanzug gab’s im März 1959 für drei Dollar, wer eine auf dem Dachboden findet, ist reich. Es gibt Sammler, die lassen die Schönheit gleich in der Schachtel eingesargt. Bettina D. aus Düsseldorf besitzt mit 3000 Exemplaren die meisten. Pro Sekunde werden drei Barbies verkauft in aller Welt: weiß, farbig, blond, brünett, mit Locken, mit Pferdeschwanz. Einmal war Barbie sogar Angie: Angela Merkel als Ehrenbarbie. Nun ja.

Es gibt Eltern, die sind bemüht, die Wohnung barbiefrei zu halten, aus ideologischen Gründen oder weil die Dinger einfach total hässlich sind. Auch unser Kind wollte eine haben, schon im zarten Alter von zwei Jahren, auch wir: „Nö!“ Ein paar Tage lief das Kind mit einem interessant geformten Zweig durch die Gegend, „das ist meine Holzbarbie!!“, war aber nicht sehr gelenkig. Wir frohlockten – und hatten die Rechnung ohne die Tagesmutter gemacht.

Bei der war das Kind zwei halbe Tage die Woche, der sozialen Kontakte wegen und damit ich auch mal an den Schreibtisch kann. Bei der Tagesmutter gab es genau die Berge von buntem Plastikspielzeug, die es zu Hause nicht gab. Und natürlich: Barbie. Die Tagesmutter war der Meinung, dass auch wir nicht darum herum kämen und schon noch sehen werden und überhaupt.

Als wir dann umzogen und ein Abschiedsfest im Garten feierten, da kam die Tagesmutter, schenkte uns ein süffisantes Lächeln und dem Kind eine rosa Schachtel: Eine echte, nagelneue Barbie! Gleich wurde sie ausgepackt, gleich wurde sie ausgezogen, gleich fielen die Schühchen in den Dreck. Ich, dann doch liebender Vater, hob sie auf und steckte sie in die Hosentasche.

Die Barbie verschwand am selben Tag in einer Kiste mit der Aufschrift „ganz hinten unten“ und am nächsten Tag im Möbelwagen und in der neuen Wohnung auf dem Dachboden. Vergessen vom Kind, so schien es, es gab wohl genug Neues.

Nur die Schühchen tauchten aus der Hosentasche auf und landeten – fragen Sie bitte nicht, wieso – in der Kleinkramschale auf meinem Schreibtisch. Sie ahnen, was kommen musste und also kam, das Kind blickte sich beiläufig um und erblickte die Schühchen. „Papa!! Was sind das für Schuhe??“ „Oh, ich, äh, das sind Playmobilschuhe!“ Das Kind holte ein Playmobilmännchen, und siehe da, es gibt einen Gott: Die Schühchen passten wie angegossen. „Papa!! Ich dachte schon, das wären die Schuhe von meiner Barbie!!“ Doch nicht vergessen.

Später tauchte die Kiste von ganz hinten unten dann doch auf und die Barbie mit ihr. Nach ein paar Tagen war der Rausch vorbei: zu blond und zu lange Beine, das ist nix zum Kuscheln, das Kind will schließlich Kuscheltierpflegerin werden.

Übrigens: Morgen hat Jean-Luc Geburtstag.

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