Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundsiebenundzwanzig
Hubert Kah: Zappel nicht!!

Nun geht das Kind ja seit einigen Monaten zum Kinderchor der Gemeinde. Und natürlich singt es daheim, was im Chor gerade studiert wird. Letzte Woche aber keimten mir ernste Zweifel: „Zappel nicht!!“, erscholl es in unserer Diele. „Halt dich still und lass die Toberei!! Drängel nicht!! Benimm dich doch!! Ich zähle jetzt bis drei!!“ Welcher Pädagogik wird hier gefrönt? In der eigenen Gemeinde? Wie oft muss eine Sechsjährige das singen, um bleibende Schäden zu bekommen? Soll ich ein ernstes Gespräch mit dem Kantor führen?

Weil das Kind nicht lesen kann und also auch keine Noten und also auch keine Liedermappe braucht, vielmehr alles auswendig kann oder eben auch nur hälftig, hat es eine Weile gedauert, bis der vollständige Text in der Diele erklang. Die erste Strophe oben stehender Pädagogik lautet: „Ach, wie sie rennen, rempeln und stoßen, und das als Erwachsene, das als die Großen! Boah, wie sie schubsen, schau dir das an! Und uns, uns Kinder ermahnen sie dann: ‚Drängel nicht!’“ Das Stück heißt „Gerempel im Tempel“ und hält uns Erwachsenen gehörig einen Spiegel vor!

Der Gesang meiner Tochter führt mir aber nicht nur vor Augen, wie erwachsen ich bin, sondern auch, wie alt ich bin. Alt ist man ja, wenn all die schrecklichen Dinge von früher wieder schwer in Mode sind. Retro nennt sich das. Schiebt mein Kind vor zwei Tagen ein Spielzeugauto über den Tisch und singt dazu, ganz versunken: „Ich geb’ Gas, ich geb’ Gas!! Ich will Spaß, ich will Spaß!!“ Von mir hat sie das sicher nicht. Von wem dann? Ich weiß es nicht.

Offenbar ist das Liedgut der „Neuen Deutschen Welle“ gerade wieder in Mode. Ich spüre mein Alter. Mein Gott, was hat man damals geträllert, wozu hat man getanzt!? Und das bekommt mein erst sechs Jahre altes Kind mit auf seinen kleinen Weg? Von wem? Ich weiß es nicht.

Ich wappne mich, bereite mich innerlich vor: Wie wird es sein? Morgens, auf dem Weg zum Kindergartenbus, werden wir fröhlich schmettern: „Wenn früh am Morgen die Werkssirene dröhnt und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt, ja, dann wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.“ Neue kleine Kinder in der Gruppe? „Sie war jung, das Herz so rein und weiß, und jede Nacht hat ihren Preis.“ Wer spielt mit wem? „Ich möchte einmal nur mit Erika, oh-oh-oh“. Lass uns am späten Nachmittag noch mal kurz an den Deich gehen: „Mit dir in der Südsee steh'n, in den Abendhimmel sehn, ... und kaum fühl ich erste Triebe, kommt auch schon die große Liebe.“ Und weil bei uns ja überall in den Dünen diese kleinen Kassenhäuschen stehen, passt sogar „Skandal im Sperrbezirk!“ Abends aber, nach der Gute-Nacht-Geschichte, werden wir leise singen: „Kleine Taschenlampe brenn, schreib ‚ich lieb dich!’ in den Himmel, oh, dann weiß ich es genau: Keine Macht kann uns mehr trennen.“

Im Sommer kommt das Kind übrigens in die Schule. „Die kleinen Mädchen aus der Vorstadt tragen heute Nasenringe aus Phosphor. Die Lippen sind blau, die Haare grün, Steichholzetiketten am Ohr. Aus den Jackentaschen ragen braune Flaschen, so sieht man sie durch die Straßen zieh’n, überall wo sie vorübergeh’n, hängt in der Luft ein Hauch von Benzin. Das ist neu, das ist neu: Hurra, hurra, die Schule brennt!!“

Von mir hat sie das sicher nicht. Oder vielleicht doch?

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