Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundachtundzwanzig
Tim Wiese oder: das Babyfon

Die Kinder sind im Bett. Natürlich sind die Kinder im Bett, es ist ja schon spät. Sehr spät. Genauer gesagt: Es ist die neunzigste Minute im Pokalhalbfinale!

Und Bremen kontert, Özil rennt mit dem Ball am Fuß, der Hamburger Jarolim stellt sich etwas, sagen wir, ungeschickt an. Und Özil kommt zu Fall. Der ganz offensichtlich sehbehinderte Schiedsrichter zückt die rote Karte! Tumulte auf dem Platz! Geschrei der Spieler, Geschrei der Fans, Geschrei der Babys.

Moment mal, wieso Geschrei der Babys? Haben die Fans ihre Babys mit im Stadion? Das Spiel ist doch live, das ist doch jetzt viel zu spät für Kinder oder gar Babys. Egal. Das Stadion kocht weiter – und endlich pfeift der Schiri ab. Verlängerung! Schnell laufe ich und hole eine frische Pulle Bier.

Das Spiel geht weiter, und es bleibt spannend, es wogt hin und her. Und dann kommt die einhundertzwanzigste Minute! Boateng schickt Pitroipa, Wiese kommt aus dem Kasten und grätscht in letzter Sekunde. Der Schiedsrichter pfeift ab. Elfmeterschießen! Geschrei der Spieler, Geschrei der Fans, Geschrei der Babys.

Halt, ach nee, oh Gott, es sind gar keine Babys im Stadion, es ist mein eigenes, das da schreit. Aus dem Babyfon. Aber es ist Pokalhalbfinale! Ich dachte, ich habe einen Sohn, einen echten Kerl, der kann doch nicht in der hundertzwanzigsten Minute nach seiner Pulle verlangen! Schnell laufe ich und hole das Baby zu mir und schalte den Ton ab (am Fernseher, meine ich). Ich wiege das Kind, ich singe halblaut beruhigend, ich schiele über seine Schulter auf das Spiel. Als Wiese den entscheidenden Elfmeter hält, schluchzt mein Baby auf. Ist eben doch ein Sohn. Schnell laufe ich und hole eine frische Pulle Milch.

Früher gab es keine Babyfone, da hatte Mann seine Ruhe beim Pokalhalbfinale. Früher ist man nach dem Schlusspfiff, also nach dem endgültigen, nach oben gegangen zu den Kindern. Und wenn eines nicht geschlafen hat, dann hat es die Pulle bekommen. NACH dem Schlusspfiff.

Aber heute? Heute steht selbst beim Pokalhalbfinale das Babyfon neben dem gekühlten Sixpack, lenkt vom Spiel ab, und wenn das Spiel spannend wird – siehe oben – macht man sich hinterher Vorwürfe. Und dann heißt es, der moderne Mann sei verweichlicht.

Meine Große braucht das Babyfon natürlich schon längst nicht mehr, sie kann ja laufen und kommt der Einfachheit halber selbst die Treppe runter, wenn was ist, ungefähr alle Viertelstunde. Dann tröste ich sie und erkläre ihr noch einmal die Abseitsregeln. Man kann ja nicht früh genug damit beginnen!

Und trotz des Pokalhalbfinales – zu unserem Babyfon habe ich durchaus eine Art persönliche Bindung. Wo das schon überall war! Wie oft das schon runter gefallen ist! Wie es überhaupt zu uns kam!

Damals, als unser erstes Kind auf der Welt war, besorgten wir uns, ganz besorgte Eltern, über die Fernleihe der örtlichen Bücherei verschiedene Hefte von „Öko-Test“ und „Stiftung Warentest“, Stichwort Elektrosmog im Kinderzimmer. Und nach langem Hin und Her hatten wir das ultimative Gerät herausgefunden, das zu unseren Bedürfnissen passt mit fast ganz ohne Elektrosmog.

Allerdings: Nicht ganz billig, diese Dinger. Also schauten wir mal bei Ebay rein. Und da haben wir es dann auch ersteigert. Oder hätten es zumindest gerne.

Aber Ebay, das ist natürlich ein Thema für sich...

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