Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge zwölf
Das zu wissen ist nützlich!

In der Zeitschrift „Neon“ – das ist ein Blättchen für alle, die sich jenseits der Zwanzig noch zu jung fühlen, eine Zeitschrift für Erwachsene zur Hand zu nehmen – waren unter der Überschrift „Unnützes Wissen“ kürzlich einige wirklich nützliche Dinge zu lesen:

„Frauen können ihren Ellenbogen um sechs Grad weiter überstrecken als Männer.“ Wieso unnütz? Wenn Mann zum Beispiel das Badezimmer so richtig gründlich sauber machen muss und auch den Abfluss schon auseinander geschraubt hat, kann er jetzt sagen: „Schatz, ich komm’ da gar nicht ran, kannst du mal bitte hier mit deinem gelenkigen Ellenbogen im Knie saubermachen?!“

„‚Tiramisu’ heißt ‚Zieh mich hoch’.“ Wieso unnütz? Das spricht Mann schmachtend aus, und entweder wird einem dann ein leckerer Nachtisch gereicht, oder es folgt etwas in der Art „halb zog sie ihn, halb sank sie hin“.

„In Nordsibirien flirten Frauen, in dem sie Männer mit Feldschnecken bewerfen.“ Wieso unnütz? Ab und an hat Mann in der Gegend ja zu tun, und wenn eine Frau sich bückt, um Schnecken aufzulesen, dann obacht! Nicht, dass Mann nicht gerne beflirtet wird, aber die Dinger sind in Nordsibirien natürlich alle eishart gefroren – der Flirt kann schmerzhaft ins Auge gehen.

„Ein vierjähriges Kind stellt täglich etwa 400 Fragen.“ Wieso unnütz? Da steht endlich mal eine konkrete Zahl im Raum. Alle Eltern schmunzeln und lächeln milde auf ihre Sprösslinge herab. Alle Nichteltern schmunzeln ebenfalls und lächeln gehässig auf die Sprösslinge der anderen herab.

Unser Kind ist vier Jahre alt, und wir konkretisieren: An drei Tagen – Dienstag, Freitag, Sonntag – wurden mit Hilfe unauffälliger Zettelchen an allen möglichen und unmöglichen Orten – ja, auch dort! – Strichlisten geführt und am sonntäglichen Abend die Summe gezirkelt. Im Durchschnitt waren es 472 Fragen pro Tag. Davon waren 16 Fragen in der Art des Selbstgesprächs ohne konkreten Adressaten, alle anderen waren Antwort heischend. 456 Fragen, das ist viel. Finden Sie?

Grundsätzlich die Hälfte der Fragen überlasse ich aus emanzipatorischen Gründen meiner Frau, es bleiben 228 Fragen. Davon ein gutes Viertel kann ich mit einem mehr ablehnenden oder weniger zustimmenden Grunzen beantworten, es bleiben 171 Fragen. Davon wiederum betreffen 22 Fragen Kirche, Religion und Glauben, das überlasse ich lieber der hiesigen Pastorin. Im Gegenzug bekomme ich allerdings 19 Fragen zurückgereicht, die mit Lokomotiven, Hunden oder Vögeln zu tun haben, es bleiben 168 Fragen. Immerhin 38 Fragen vergisst das Kind noch während des Fragens selbst, es bleiben 130 Fragen. Das Kind ist von zirka sieben Uhr bis zirka zwanzig Uhr wach. Macht zehn Fragen pro Stunde. Das klingt doch überschaubar, oder? Ist es auch.

Denn es sind nicht die 472 Fragen pro Tag, die einem den Nerv rauben können, wenn man sich zum Beispiel gerade heute gerade ganz besonders auf eine gerade gänzlich andere Sache konzentrieren muss. Es sind die 792 Postulate, 1024 Korrekturen, 198 Drohungen und 1622 Forderungen, die noch hinzukommen. Die paar Fragen beantworte ich da ganz locker aus der Hüfte.

Und bei aller Antworterei – eine einzige, wirkliche, echte Frage bleibt: „Papa, warum??“ Und hier die ehrliche, elterliche, fürsorgliche Antwort: „Mein Kind, ich weiß es auch nicht.“

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