Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertunddreißig
Bremen, natürlich

Die Kinder sind im Bett. Natürlich sind die Kinder im Bett, es ist ja schon spät. Genauer gesagt: Neunzigste Minute im zweiten UEFA-Cup-Halbfinale! Hamburg gegen Bremen, Teil III. (Falls sich jemand nicht so auskennt und das Gefühl hat, irgendwie spielt nur noch Hamburg nur noch gegen Bremen – so ist es!)

Die Kinder sind im Bett. Genauer gesagt: Ich hoffe es, denn ich weiß es nicht. Ich bin ja auch gar nicht zuhause. Unsere kleine Glotze hat nämlich den Geist aufgegeben, weshalb ich zu einem guten Freund fahren musste, um das Spiel zu sehen, ein paar Kilometer über Land. Der hat sowieso eine viel größere Glotze.

Hamburg macht Druck. Ich habe auch Druck, ich überlege nämlich, wie es daheim wohl zugeht. Vor meinem innere Auge entstehen Bilder, die sich mit dem vom Spiel auf dem Bildschirm überlagern. Ein seltsamer Tanz: Ich sehe Tim Wiese, wie er sich streckt, ich sehe meine Große, wie sie hüpft, ich sehe Gravgaard, wie er an einer Papierkugel scheitert, ich sehe den Ganzlütten, wie er gerade den Kühlschrank öffnet. Hoffentlich ist die neue Babysitterin lieb und hilft ihm!

Für den Besuch bei meinem Freund überlegte ich kurz die Anschaffung eines Spezialbabyfons mit einer Reichweite von bis zu fünf Kilometern, verwarf die Idee aber: Man lagert entspannt auf dem Sofa vor der befreundeten Glotze, da brüllt das Baby im Babyfon los: weil es jetzt doch noch ein wenig Hunger hat, weil es aus dem Bett gefallen ist oder weil es gerade entführt wird. Voll väterlicher Panik springt man auf’s Rad und strampelt los. Was sind schon fünf Kilometer bei scharfem Seewind aus Richtung Nordnordwest? Ganz sicher einer der Tage, an denen man im Graben landet – was gar nicht schwer ist, weil es bei uns ja mehr Gräben als Wege gibt.

Also kein neues Gerät. Für daheim tut’s das alte ja durchaus. Auch wenn es mächtig rauscht und knackt. Und für den Besuch bei den Nachbarn schräg gegenüber sollte die Sendeleistung laut Bedienungsanleitung reichen. Was natürlich keineswegs der Fall war.

Da haben wir praktisch gedacht und das Elternteil des Babyfons daheim ins Fenster gestellt und dann ab und an vom nachbarlichen Fenster mit dem Fernglas rübergeschaut, ob es schon blinkt. Muss lustig ausgesehen haben für die abendlichen Spaziergänger, wenn so ohne jede Scham mit dem Fernglas ins Pastorat geglotzt wird...

Doch zurück zum Fußball. Ich will nicht opportunistisch erscheinen, aber vielleicht muss es nicht immer Hamburg sein? Ist Bremen nicht auch eine schöne Stadt? Liegt es nicht auch am Wasser? Spielt man dort nicht einfach den besseren Fußball? Ich glaube, wir sollten uns diese Stadt mal ein wenig genauer ansehen. Gemeinsam mit der Lieblingspastorin wälze ich den Familienkalender. Siehe, da sind einige Tage, an denen hier zuhause gar nichts stattfinden wird. So beschließen wir, der interessanten Fußballstadt Bremen ein paar Tage zu widmen. Praktischerweise starten wir unsere Reise am nächsten Mittwoch, da ist das UEFA-Cup-Endspiel: zwar nicht in Bremen, aber mit Bremen. Und in Bremen selbst gibt es sicher „Public Viewing“, die Fans werden ihre Lieder singen und in den Straßen ihrer Freude am göttlichen Sport stimmungsvoll Ausdruck verleihen.

Ja, Vorfreude ist die schönste Freude.

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