Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundvierunddreißig
Felix, der Glückbringende

Großartige Dinge werfen ihre Schatten voraus. Noch ein paar kleine Monate, dann wird aus unserem Kindergartenkind ein Schulkind. Schule – was für ein wunderbares Wort für eine Sechsjährige! Was für ein Zauberklang! Nicht mehr nur ein kleines, dummes, popeliges Kindergartenkind. Schulkind!! Das klingt doch ganz anders.

Eltern entdecken einmal mehr zwiespältige Gefühle: Stolz, klar. Aber Schule heißt auch Schulpflicht. Dann ist Schluss mit dem verlängerten Wochenende außer der Reihe. Übrigens: Ab diesem Sommer ist das letzte Kindergartenjahr gebührenfrei. Toll, wie wir das wieder hinbekommen haben ...

Nun gehört es zu den hohen Künsten moderner Elternschaft, den richtigen Moment zu treffen. Den richtigen Moment treffen: Wenn das Kind traurig ist. Wenn das Kind fröhlich ist. Wenn etwas gelungen ist. Wenn etwas misslungen ist. Wenn etwas begehrt wird über alle Maßen. Den richtigen Moment treffen, dass heißt: weniger Tränen, mehr Strahlen, weniger Schmollen, mehr Glück. Manchmal trifft man den richtigen Moment aus purem Zufall, wenn man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Das ist dann besonders schön.

Häufiger als der Zufall ist allerdings Geduld im Spiel, und oft geht es um Dinge: Dinge, die schon lange gewünscht wurde, die aber ihre Zeit noch nicht hatten. Dinge, über die vielleicht Abende lang diskutiert wurde und die eines scheinbar willkürlichen Tages wie zufällig auf dem Kissen oder neben dem Teller liegen.

Wer die Kunst ein wenig beherrscht, der zaubert mit einem milden Lächeln auf die schon hundertvierundzwanzig Mal vorgebrachte Forderung „Ich will endlich ein Haustier!!“ ein quicklebendiges Meerschweinchen aus der hohlen Hand. Wer nach mehrstündiger Wanderung über Stock und Stein auf die in der flirrenden Luft der Hohen Heide an sich blödsinnige Frage „Kann ich Eis?“ tatsächlich ein herrlich kaltes Eis aus der Hosentasche zu ziehen vermag, der ist der Meister und ein wahrer Künstler.

Nun also redet das Kind seit Monaten von kaum etwas anderem als von der Schule – und sehr konkret davon, wie de zukünftige Schulranzen aussehen soll, rosa mit blauen Sternchen und silbern glitzernden Einhörnern oder so ähnlich. Allerdings: Seit vielen Monaten steht auf dem Dachboden versteckt ein wunderbarer rot karierter Schulranzen mit einem kleinen Hasen darauf namens Felix. „Felix“ heißt verdolmetscht „der Glückbringende“.

„Papa!! Wann bekomme ich endlich einen Schulranzen??“ „Bald, mein Kind, bald.“ Natürlich wäre es einfach, kurz auf den Dachboden zu gehen. Doch ein sechsjähriges Kind, das gerade in einer rosa-silbern-glitzernden Phase steckt, würde einen rot karierten Ranzen mit dem Hasen Felix nur sehr enttäuscht empfangen können, um es vorsichtig zu formulieren.

„Bald, mein Kind.“ Geduld ist eine Prüfung, auch für die Eltern. Und eines Tages, ohne jedes Zureden, kommt das Kind des Morgens die Treppe herunter gestapft mit dem kleinen rot karierten Spielköfferchen mit dem Hasen Felix darauf, den es in der hintersten untersten Ecke seines Zimmers wiederentdeckt hat. „Guck mal, Papa, was ich wiedergefunden habe!! Ich LIEBE Felix!!“

Und zack! ist der Moment gekommen: Mittags darf das Kind ein geheimnisvoll ausgebreitetes Tuch vorsichtig anlupfen ... darunter findet es den Ranzen, rot kariert, mit Felix darauf, dem Glückbringenden.

„Papa, ich LIEBE Felix!!“

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