Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundfünfunddreißig
Der Ernst des Lebens

Es muss nicht immer alles nagelneu und nagelteuer sein, und das Kind hat keine Probleme mit gebrauchten Dingen, und manche Dinge sehen auch gebraucht noch ansehnlich aus. Der Felixranzen zum Beispiel, der ist von meinem Patenkind. Auch wenn es außerhalb meiner Vorstellungskraft ist, wie ein Schulranzen nach Ablauf der Grundschulzeit so gut aussehen kann.

Das Kind hat keine Probleme mit gebrauchten Dingen, vor allem dann nicht, wenn diese in Gebrauch waren bei der „großen Schwester“, also bei meinem Patenkind – siehe Folge 97. Das Kind ist ja mittlerweile selbst eine große Schwester und sieht heute am Ganzlütten, wie unabdingbar notwendig eine große Schwester ist. Und kann sich deshalb freuen über ihre große Schwester.

Da passt es gut, dass wir gerade Urlaub machen wollen am Bodensee, ganz in der Nähe eben jener großen Schwester. Und selbstverständlich MUSS der neue Felixranzen mit in den Urlaub, sozusagen zurück an seine alte Wirkungsstätte. Denkt das Kind. Und selbstverständlich wird er das GAR nicht tun. Weiß ich. Bin ich denn verrückt und haben wir nicht schon genug Gepäck und müssen wir nicht dreimal umsteigen? Aber noch sind die Koffer nicht gepackt, die Diskussion wartet noch auf uns.

Zum Ranzen gehört nicht nur ein rot karierter Turnbeutel mit dem Hasen darauf, sondern eben auch eine rot karierte Federtasche mit dem Hasen darauf. Die musste neu angeschafft werden. Ja, versuchen Sie mal etwas aufzutreiben in einem einige Jahre alten Design. Denn der glückbringende Felix hat ein neues Design und heißt jetzt Abenteuer-Felix. Vielleicht kann man die alten Sachen irgendwo bestellen oder ersteigern. Wir fanden die Federtasche in einem dieser echten Spielzeugläden, die nicht nur ein Anhängsel irgendeiner Kette sind.

Müßig zu erwähnen, dass der neue Schulranzen bis auf weiteres neben des Kindes Bett steht. In seiner Mittagspause sitzt es mit ihm auf dem Rücken im seinem Zimmer und bastelt.

Nun schärfe ich dem Kind ein, dass ein Ranzen NICHT zum Spielen da ist oder zum Basteln und dass die vielen neuen Stifte in der Federtasche exakt da bleiben, wo sie sind. Ich möchte zum Schulbeginn weder stundenlang Klebstoffreste von einem quasi neuen Ranzen schrubben noch ewig lang die richtigen Stifte suchen. Das Kind hat ein Einsehen.

Als wir am nächsten Morgen zum Bus tippeln, bleibt die Federtasche also zuhause. „Papa, wie lange bin ich im Kindergarten??“ „Ziemlich genau vier Stunden.“ „Gut. Papa, kannst du nach zwei Stunden gucken, ob meine Federtasche noch auf dem Regal liegt??“ „Na ja, wo sollte sie sonst sein, sie kann ja nicht weg!“ „Teddy war auch schon mal ganz woanders als da, wo ich ihn hingelegt habe!!“ Ich kommentiere das nicht.

Die Federtasche bleibt, der Ranzen nicht. Den hat das Kind auf dem Rücken: Natürlich nimmt es ihn mit in den Kindergarten. Es ist ein höheres Gesetz bei Sechsjährigen, dass ein neuer Ranzen mitgenommen wird in den Kindergarten. Zum Herzeigen, zum Angucken, zum Bestaunen. NICHT zum Spielen!

Mittags, als das Kind müde aus dem Kindergartenbus fällt, folgt die Ernüchterung. Der Glückbringende hat versagt: „Leila ist GAR nicht mehr meine Freundin!! Für HUNDERT Jahre!! Sie wollte mit meinem Ranzen SPIELEN!!“

Schule, der Ernst des Lebens.

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