Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundsechsunddreißig
Ihr sollt reden!

Das Kind redet gerne. Erzählt gerne, was es erlebt und denkt und macht und tut. Das ist schön. Meistens ist es schön, aber manchmal hat man auch noch anderes vor, und manchmal ist das auch nicht alles sooo interessant. Aber nichts ist so, dass es nicht berichtet werden müsste. Nun ja, das ist bei vielen Erwachsenen ja auch nicht anders.

Manchmal möchte das Kind aber nicht reden, sondern zuhören. „Ich mach jetzt große Ohren, ihr könnt euch unterhalten!!“ Überraschenderweise ist es aber so, dass nicht alle Menschen unentwegt reden müssen. Neulich, am Abendbrottisch, sagt das Kind: „Ihr könnt reden!! Ich will euch zuhören!!“ Kleine Pause, beide Eltern schweigen. Gibt wohl gerade nichts zu reden. Soll ja vorkommen. Das Kind versucht es wie nebenbei: „Worüber redet ihr als nächstes??“ Doch Pause und Schweigen und Essen und Trinken. Da ist die Geduld einer Sechsjährigen schon zum Ende gekommen, der Ton wird unmissverständlich: „IHR SOLLT REDEN!!“

Das Kind interessiert sich fürs Reden und Zuhören, das Kind interessiert sich aber auch für Sprachen. Und wenn man durchs Land reist und glücklicherweise auf immer weniger Grenzen stößt, von Mauern ganz zu schweigen, so quert man doch die eine oder andere Sprachgrenze.

Die erste Sprachgrenze liegt, was ich gar nicht wusste, kurz hinter Hamburg: Im März hat der Kindergartenbus einen neuen Fahrer bekommen. Sagt das Kind: „Wir müssen uns erst an seine Sprache gewöhnen!!“ Ich frage interessiert nach. „Ja, der neue Busfahrer kommt aus Niedersachsen!!“

Verglichen damit ist Süddeutschland hinter allen Bergen, von hier aus gesehen. Und also ist das Kind in unserem Urlaub auch ganz erstaunt: dass ein und dasselbe Ding ganz anders heißen kann! So hat es seiner „großen Schwester“ vom neuen Schulranzen berichtet und vom Turnbeutel und von der schönen Federtasche. Und guckt groß, als es korrigiert wird: Das heiße nicht Federtasche, sondern Mäppchen. „Sie sagt Mäppchen, Papa!!“ Und lacht etwas unsicher.

Das Kind redet gern, das Kind redet viel. Doch es scheint zu kommen, was wohl kommen muss: Der Ganzlütte wird noch mehr reden. Ja, das ist auch völlig klar, er MUSS ja viel reden, um sich gegenüber der Schwester Gehör zu verschaffen. Manchmal denke ich, er weiß es jetzt schon, er spürt es, er trainiert schon. Und guckt mich mit ernstem Gesicht an und sagt mit halblauter Stimme: „Dada da DADADA da dada!!“ Er grinst, ich grinse zurück, ich werfe ein „So so, meinst du?“ ein, oha, da klingt Widerspruch mit, da muss er gleich mal etwas lauter werden: „Dada DA DAdaDA DA DAda!!“ Tja, und dann kommt meine Große rein, und redet einfach drauflos, wie immer ganz egal, ob da andere Menschen sind, die sich vielleicht gerade unterhalten, oder gar Kleinkinder, die gerade mühsam versuchen, sich die Welt redend Untertan zu machen.

Und dann schallt es in mein eines Ohr „Papa, weißt du wahas!? Ich habe vorhin Leila getroffen, und weißt du wahas!?“ und in mein anderes Ohr jetzt sehr nachdrücklich „DADA DA DADADA DA DADA!!“ und zwischen beiden Ohren sitzt mein Kopf und versucht das alles gleichzeitig aufzunehmen, zu begreifen, zu verarbeiten. Da kommt die Lieblingspastorin herein, direkt von einem Termin, „Ich MUSS euch erzählen, wen ich getroffen habe!“

Ich habe sowieso gerade gar nichts zu sagen.

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