Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge dreizehn
Der Konfirmand, der Held

Das Kind ist angesichts der Rollenverteilung bei uns ja durchaus väterlich beeinflusst, und wenn es gelegentlich dagegen protestiert – „Immer, immer, immer bringst du mich ins Bett!“, was noch nicht einmal stimmt –, dann kann man immer gut von Nora erzählen, die lange Zeit der Meinung war, dass ihr Vater nur am Wochenende bei ihr und ihrer Mutter wohnte, weil sie ihn nur am Wochenende sah: Der arme Kerl ging zur Arbeit, bevor Nora die Augen aufbekam, und kam nach Hause, wenn sie schon ins Kissen schnorchelte.

Nun ist das Kind nicht nur väterlich beeinflusst, es zeigt in der Folge auch eine freundschaftliche Neigung zu männlichen Erdenbewohnern, und möglichst großgewachsen müssen sie auch sein. Männer im Freundeskreis werden ungeachtet ihres Charakters angehimmelt, sofern sie mehr als ein Meter fünfundachtzig messen. Absolutes Nonplusultra aber sind Konfirmanden. Gott allein weiß, warum.

Konfirmanden kennen wir, die drücken sich vor dem Kirchgang, und wenn sie sich nicht drücken, dann drücken sie sich, nämlich in die letzte Reihe, und dort warten sie, ob der Küster sie vielleicht dieses Mal übersieht und nicht nach vorne scheucht. Wenn er sie übersieht, dann lärmen sie herum, lesen Comics, trinken aus heimlich in die Kirche geschmuggelten Zweiliterflaschen Cola mit Rum und gackern wie die Hühner, wenn es gerade so richtig gar nicht passt.

Und wenn man als Vater weiter hinten sitzt, damit das eigene Vierjährige die anderen Gottesdienstbesucher mit seinen siebzehn lautstarken Zwischenfragen nicht stört, dann sitzt man in Hörweite der Konfirmanden, bekommt deren Gegacker aus nächster Nähe mit und fragt sich, wie der Herr das eigentlich alles zulassen kann.

Nun, so sind sie, die lieben Großen; natürlich sind längst nicht alle so. Das Kind aber liebt sie, jedenfalls an sich. Im Gottesdienst ist es noch etwas irritiert und schaut hinüber, weil das Gegacker bei der Lektüre der siebzehn vorsorglich mitgebrachten Pixi-Bücher stört. Manchmal sorgen diese halb irritierten, halb tadelnden Blicke für Momente der Ruhe. Wer will schon Gefahr laufen, sich von einer Vierjährigen zurechtweisen zu lassen?

Nach dem Gottesdienst aber geht die Bewunderung erst richtig los. Das Kind setzt seine kleine, gelbe Schirmmütze verkehrt herum auf, mit dem Schirm nach hinten: „Jetzt seh’ ich aus wie ein Junge! Wie ein Konfirmand!“ Und bei einem der winterlichen Spaziergänge warf es wieder und wieder seinen Lieblingsteddy in die Luft und auf den Weg: „Ich spiel’ mit großen Jungs! Ich bin ein großes Mädchen! Ich spiel’ mit großen Jungs!“ Es klang wie eine Drohung.

Das Kind und ich, durften im vergangenen Herbst sogar mit auf Konfirmandenreise, mit Gaststatus. Das Kind hat in den Arbeitspausen den Laden ordentlich aufgemischt, und ich durfte im ersten Teil der Nacht auf dem Gang der Jugendherberge Wache schieben, damit es nicht zu aufgemischt hin und her ging. Um Missverständnissen zuvor zu kommen: Im zweiten Teil der Nacht haben alle geschlafen, jeder in seinem Bett. Also jeder in seinem eigenen.

Und wenn man das Kind dann fragt, ob ihm die Reise gefallen hat und was sein schönstes Erlebnis war, erhält man die erhellende Antwort: „Malte hat mir die Zunge rausgestreckt!“ Muss Liebe schön sein...

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