Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge einhundertundvierzig
Alles hat ein Ende ...

„Papa??“ „Ja, mein Kind?!“ „Papa, ich bin traurig!!“ „Warum denn?“ „Weil ich in die Schule komme!!“ Ich bin bass erstaunt und, zugegeben, umgehend erschüttert. Bisher war die Vorfreude allgewaltig: Felixschulranzen, Felixfedertasche, Felixbettwäsche, Schultüte, neue Freunde, endlich Lesen lernen, kurz: Schule an sich! „Ich dachte, du FREUST dich auf die Schule?“ „PAPA!! Ich FREU mich ja auch auf die Schule!! Ich bin traurig, dass ich dann nicht mehr in den Kindergarten gehen kann!!“

Ich tröste das Kind ausführlich. Als ich aber hernach gedankenverloren die Stiege hinabsteige samt mitfühlender Träne im Augenwinkel, da kommt mir eine alte Melodie in den Kopf. Nein, nicht die Loreley, viel schlimmer. Eines dieser schrecklichen Lieder, die im Radio zu hören war, als ich ein verzweifelter Jüngling war (das Lied passte immer), die Älteren unter uns werden sich erinnern: „Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei, jawoll, mein Schatz, es ist vorbei...“ Stephan Remmler hieß der Mann, der’s verbrach.

Nun ist es soweit. Ja, es ist vorbei, mein kleiner Schatz: Letzten Freitag die letzte Fahrt mit dem Kindergartenbus. Vorletzten Mittwoch das letzte Mal Abenteuerturnen. Kein Kinderrestaurant mit „Köcherin“ mehr und keine Lernwerkstatt. Kein Ringen mehr, keine Kämpfe: Wie werde ich Züntia vermissen! „Züntia ist GAR nicht mehr meine Freundin für hundert Jahre!!“ Und keine Beutelkunst mehr!

Am Ende die traditionelle Übernachtungsaktion mit Grillwürstchen und Wattwanderung und schließlich der große Abschiedsgottesdienst in der Kirche: nur für Kinder, die in die Schule kommen, und für ihre Eltern. Und wenn der Ganzlütte nicht gerade eine besonders, sagen wir: engagierte Phase gehabt hätte, hätte ich den Gottesdienst sogar miterleben können.

Alles hat ein Ende. Wehmut macht sich in mir breit, ich entkorke schweren Rotwein. Wie gut kann ich mich noch an den ersten Kindergartentag erinnern, vor dreieinhalb Jahren. Tränen flossen (beim Kind), als ich es in die Obhut fremder Menschen gab, ja: tagelang Tränen mit Winken an der Tür, „Papa, WANN kommst du wieder??“ Ich erinnere mich auch noch sehr gut daran, dass das Kind am fünften Tag unbedingt mit dem Kindergartenbus fahren wollte wie alle anderen Kinder auch. Wie wir an der Haltestelle standen, neben Xenia, die war schon so groß, schon sechs Jahre alt, sollte bald in die Schule kommen. Wie dann Tränen flossen (bei mir), als der Bus mein Kind mitnahm. Es war doch noch SO KLEIN!

Heute ist mein Kind groß. Kinder wachsen mit ihren Fähigkeiten, werden schnell groß und größer, das Selbstbewusstsein wächst fröhlich mit, so fühlen sich kleine Kinder groß und größer.

Einer Sechsjährigen geht das bei jedem beliebigen Ereignis locker von den Lippen: „Das war damals, als ich ein kleines Kind war“. Und guckt dabei mit Unschuldsmiene und meint das ganz ernst. Ist ja auch schon sechseinhalb. Quasi erwachsen also. Was unter einem kleinen Kind zu verstehen ist, demonstriert der Ganzlütte auf seinen wackeligen O-Beinchen: Keine Sechsjährige käme auf die Idee, am Lautstärkeregler der Stereoanlage zu nagen.

Aber war hier von Wehmut die Rede? Von Tränen? Von „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“? Alles Blödsinn! Großartige Dinge werfen ihre Schatten voraus:

Mein Kind kommt in die Schule!!

zurück