Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge einhundertundzweiundvierzig
Zuhause zur Kur

Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf, und wasserscheu war das Kind noch nie. Der Babyschwimmkurs vor fünf Jahren hat offenbar Wirkung gehabt: Eine zeitlang mussten wir unser kleines Kind bei Spaziergängen am Deich fast anleinen, weil es sonst schnurstracks ins Watt und in den nächsten Priel getappt wäre.

Babyschwimmkurs, okay. Und im Sommer vor der großen Sandbank im flachsten Wasser sitzen und Schlammburgen bauen. Aber richtig schwimmen können ist etwas anderes.

Also melde ich das Kind zum Schwimmkurs in der hiesigen Therme an: Es gibt Termine und da geht man dann hin, wenn’s in den Kalender passt, bezahlt einen Obolus zum normalen Eintrittspreis, und irgendwann sagt der Meister: jetzt! Und dann macht das Kind das so genannte Seepferdchenabzeichen: Fünfundzwanzig Meter weit im tiefen Wasser schwimmen ohne zu ertrinken. Einmal tauchen. Einmal vom Beckenrand hüpfen.

Erste Schwimmstunde, große Aufregung. Papa sitzt landseitig am Beckenrand, das Kind klammert sich seeseitig an denselben. Rundumher ein Haufen anderer Kinder in unterschiedlichen Stadien des Nichtertrinkens. Wie soll das Kind hier schwimmen lernen? Jetzt klammert sich das Kind an den Meister und versucht dabei lässig zu gucken. Misslingt völlig. Es bekommt Wasser ins Gesicht. Wasser im Gesicht ist etwas Schreckliches.

Bei der zweiten Schwimmstunde ist das Kind schon lockerer, hält sich nur noch mit einer Hand am Beckenrand fest und springt am Ende der Stunde tatsächlich und bekommt sogar Wasser ins Gesicht!

In der dritten Schwimmstunde ist das Kind gewohnt selbstherrlich: „Wahrscheinlich bekomme ich das Seepferdchenabzeichen morgen!!“ Schwimmen kann es nicht, der Meister zieht es durchs Wasser. Immerhin haben die Beinbewegungen eine entfernte Ähnlichkeit mit Schwimmbewegungen.

Die nächsten Male bringe ich das Kind nur noch bis zur Kasse, entrichte den Obolus und gehe einkaufen. Danach hole ich das Kind in der Halle ab, schaue bei den letzten Übungen zu und trockne dem Kind die Ohren: „Wie war’s?“ „Gut.“ Ich spreche mit dem Meister: „Wie war’s?“ „Gut.“ Erstaunlich. Ich sah ein fast ertrinkendes Kind.

Beim siebten Mal ist es dann schon soweit! Fünfundzwanzig Meter weit im tiefen Wasser schwimmen – ohne Ertrinken. Einmal tauchen. Einmal vom Beckenrand hüpfen. Zu dritt, kreischend, mit ordentlich Wasser im Gesicht. Urkunde, Abzeichen, Händedruck, großer Stolz. Am Abend wird das Abzeichen auf den Badeanzug genäht.

Am nächsten Tag muss das Kind unbedingt noch einmal in die Therme, damit ALLE das Abzeichen sehen. An diesem Tag regnet es natürlich aus Kübeln, und also sind alle Touristen in der Therme, die sonst an den Strand und ins Meer gehören: Die Kassenschlange reicht bis auf die Straße. Doch das Kind ist nicht abzubringen.

Ein vorläufig letztes Mal ärgere ich mich an der Kasse, dass ich „Kurtaxe“ berappen muss. Sehe ich aus wie ein Tourist? Bin ich zur Kur hier?

Kuren sollen ja entspannend sein. Sehr entspannend: Mit einem Kind, das zu einer gewissen Selbstüberschätzung neigt, und dem Ganzlütten, der sowieso alles will und kann und zwar jetzt sofort und sehr gerne mit und im und auch ins Wasser.

Wir drei haben auch diesen Nachmittag überstanden. Und mein Kind kann jetzt schwimmen! Fünfundzwanzig Meter weit!

Bei Meter Sechsundzwanzig bin ich jetzt immer zur Stelle und rette es.

zurück