Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundsiebenundvierzig
All Morgen ist ganz frisch und neu

Als Eltern machen wir immer wieder die Erfahrung, dass jeden Morgen alles ganz frisch und neu ist – ja, ALLES ist neu, auch die Dinge, die an sich bekannt sein dürften, als da wären waschen, anziehen, frühstücken, Meerschweinchen füttern. Was soll ich?? Du sollst deine Meerschweinchen füttern! Ich?? Immerhin fragt das Kind nicht, von welchen Meerschweinchen die Rede ist, eine vage Erinnerung an gestern und einige hundert Tage zuvor muss also vorhanden sein.

Aber nun ist TATSÄCHLICH alles ganz neu – das Kind ist seit letzter Woche ein waschechtes Schulkind. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für ein Kind. Oder so ähnlich. Oder umgekehrt.

Da war der große Einschulungsgottesdienst mit einer kleinen Schar anderer aufgeregter Kinder und einer großen Schar aufgeregterer Eltern und Großeltern, Tanten und Onkels. Das Kind wendet alle naslang die Augen aus der Kirchenbank zur Kirchentür, es hatte sich doch beim Schnuppertag eine allerbeste Schulfreundin erkoren. „Papa, wie spät ist es??“, raunt das Kind. „Gleich neun Uhr“, raune ich zurück. Da werden die Augen schon ein wenig feucht, will Larissa denn GAR nicht kommen?!

Doch da entdeckt das Kind Larissa zwei schlichte Reihen hinter sich, sie war ja längst dagewesen! Die Freude bei Larissa ist ebenbürtig, flugs setzen sich die beiden auf zwei freie Plätze, leider direkt vor mich, und schnattern und kichern und bezeigen einander ihre Schultüten. Fragen Sie mich nicht, worum es später in der Predigt ging, ich könnte Ihnen eine Menge erzählen über Pippi Langstrumpf und violette Einhörner im Nebel, also über all das, was direkt vor mir bekakelt wurde – ich fürchte: mit der Predigt hatte das eher wenig zu tun.

Um so mehr hatte es zu tun mit den Kinder, und um die geht es ja auch: Da hatten zwei sich gefunden, aus dem Stand heraus aus der großen Masse der Schulkinder einer Schule. Übrigens: Auch am dritten Schultag war Larissa nicht doof und auch nicht GAR nicht mehr ihre Freundin für hundert Jahre. Scheint was Ernsteres zu sein.

Nach dem Gottesdienst zogen Kindern, Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel hinüber in die Schule, es gab einiges Theater zur Unterhaltung und danach Feingebäck für die Großen, während die Kinder ihre erste Stunde hatten.

Nun ist Schule idealerweise ja die Fortsetzung des Kindergartens mit gleichen Mitteln: Lernwerkstatt, jahrgangsübergreifendes Lernen, forschen statt pauken. An modernen Kindergärten soll es nicht scheitern, weshalb wir uns darüber freuen, dass es die freie Schulwahl mittlerweile auch für Grundschülereltern gibt. Und artig in der Reihe sitzen ist sowieso längst out – außer abends an der Theke im Dorfkrug natürlich, aber selbst das funktioniert nur, wenn der Wirt unterhaltsamen Charakters ist, dem man gerne zuhört. Oder der die Kunst des Zuhörens beherrscht.

Womit wir beim Thema „Kind und Kunst“ wären: Was bisher des Kindes freier Wille war zu jeder Zeit, an jedem Ort und mit jeglichem Material, das ist jetzt ein Unterrichtsfach. Doch ausgerechnet die erste Stunde in ausgerechnet diesem Schlüsselfach ist die erste Enttäuschung schlechthin: „Die Lehrerin hat nur VORGELESEN!! Wir durften GAR nicht malen!!“

Der Frust ist verständlich: Seit wann ist Zuhören eine Kunst?

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