Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundachtundvierzig

Taxi nach Fahrplan

 

Wenn man auf dem Land wohnt, genießt man Dinge, die der Stadtbewohner nur vom Hörensagen oder vielleicht aus dem Urlaub kennt: Die Ruhe, die Unmittelbarkeit von Naturgewalten bei schweren Sturmfluten, die Weite der Landschaft und dergleichen.

Besonders angetan hat es mir die Weite der Landschaft, sie erleichtert das Leben: Schaue ich aus dem Fenster, kann ich in der Ferne sehen, dass mein Freund sich aufs Rad geschwungen hat mich zu besuchen. Und in der halben Stunde, die er noch bis in unsere gute Stube benötigt, kann ich in Ruhe Kaffee kochen und Feingebäck bereit stellen.

Die Weite der Landschaft erschwert das Leben aber mitunter auch: Egal was, es ist immer entfernt. So hat der Herr in seiner Weisheit das Kind mit Eltern geschlagen, für die die nächstbeste Schule nicht unbedingt die beste ist, sondern die lieber eine bessere wollten. Also ist Fahrerei angesagt, denn von unserem Dorf zur Schule fährt kein Bus noch Zug. So wurde ich der Taxifahrer meiner Kinder...

Was aber heißt das konkret? Nehmen wir einen völlig willkürlich gewählten Tag, also Mittwoch. Manchmal hilft es, sich genaue Zeiten aufzuschreiben: Man ordnet die Gedanken, organisiert sich und stolpert über chronologisch unmögliche Tageskonzepte. Ja, man kann geradezu eine Art Fahrplan aufstellen, Eisenbahnfreunde aufgemerkt!

Der Fahrplan für Mittwoch sieht so aus: Abfahrt zuhause 8.03 Uhr, Ankunft Schule 8.18 Uhr, Abfahrt Schule 8.21 Uhr, Ankunft Krippe 8.29 Uhr, Abfahrt Krippe 8.46 Uhr, Ankunft zuhause 8.53 Uhr. Dann ist ein wenig Zeit für mich, den Staubsauger und die Weite der Wohnlandschaft, bevor ich sie mittags alle wieder einsammle: Abfahrt zuhause 11.52 Uhr, Ankunft Krippe 11.59 Uhr, Abfahrt Krippe 12.17 Uhr, Ankunft Schule 12.25 Uhr, Abfahrt Schule 12.40 Uhr, Ankunft zuhause 12.55 Uhr.

Nun hat das Kind, frisch eingeschult, auch neue Freunde und selbstverständlich ist das Einzugsgebiet der Schule in Richtung Osten so weit wie in Richtung Westen: Abfahrt zuhause 14.39 Uhr, Ankunft bei Paula 14.59 Uhr, Abfahrt bei Paula 15.12 Uhr, Ankunft zuhause 15.32 Uhr.

Wenn ich mich auf dem Rückweg ein wenig ranhalte mit dem großen Einkauf, der Grundversorgung des Ganzlütten und dem Abstecher in den Baumarkt, schaffe ich es zurück zu sein, bevor ich wieder losfahre: Abfahrt zuhause 17.39 Uhr, Ankunft bei Paula 17.59 Uhr, Abfahrt bei Paula 18.29 Uhr, Ankunft zuhause 18.49 Uhr. Die halbe Stunde zwischen Ankunft und Abfahrt bei Paula verbringe ich übrigens mit der Suchen nach Teddy und das Kind mit dem tränenreichen Abschied. Ach ja, abends ist Elternabend in der Schule: Abfahrt zuhause 19.40 Uhr, Ankunft Schule 19.55 Uhr, Abfahrt Schule 22.01 Uhr, Ankunft zuhause 22.16 Uhr.

Mithilfe einer präzisen Landkarte im Internet und meines Taschenrechners ermittle ich, dass ich am Mittwoch gut 140 Kilometer Taxi fahre. Bei einem kombinierten Verbrauch von 5,7 Litern Diesel pro 100 Kilometer benötige ich 7,98 Liter, macht 8,45 Euro (Stand von heute: 1,06 Euro pro Liter). Hinzu kommt der C-O-Zwei-Ausstoß (weitere Gifte jetzt mal vernachlässigt), der für unser Auto mit 149 Gramm pro Kilometer angegeben wird, das summiert sich am Mittwoch auf rund 20 Kilogramm.

Irgendwie, scheint mir, hat die Enge der Stadt auch ihren Reiz.

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