Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundneunundvierzig
Sonntagsschön

Im Schaukasten vor unserer Kirche hängt seit ein paar Tagen ein heftig orangefarbenes Plakat: Sonntagsschön steht darauf, und drum herum stehen lauter Sachen, die sonntags schön sind: Tagträumen. Die Comicsammlung sortieren. Schlafen, bis es nicht mehr geht. Ich schmunzle.

Das Plakat soll den Betrachter darauf hinweisen, dass der Sonntag ein Sonntag ist und kein Werktag. Vielleicht erinnern Sie sich an die Kampagne Ohne Sonntag gibt’s nur noch Werktage. Der Sonntag soll der Tag sein, an dem die genannten schönen Dinge getan werden können. Sonntagsschön. Ich putze meine Brille. Werfen Sie mit mir einen genauen Blick auf die Schönheiten des Sonntags.

Tagträumen. Dauert maximal eine halbe Minute. Dann krabbelt und brabbelt das eine Kind auf meinen Schoß und will kuscheln, das andere flucht und braucht Hilfe beim Basteln. Oder umgekehrt.

Die Comicsammlung sortieren. Tatsächlich, die Bücher müssten mal wieder sortiert werden. Nehme ich aber ein Buch zur Hand, kommen zwei Kinder an. Das eine will auch mal abbeißen, das andere will JETZT und SOFORT vorgelesen bekommen.

Sonne, die durch Kirchenfenster fällt. Um Sonnenlicht beim freien Fall durch Kirchenfenster zuzusehen, muss man in der Kirche sein, innen drinnen. Beispielsweise im Gottesdienst. Da sind dann auch zwei Kinder. Das eine will noch mit den Klapptürchen der Kirchenbänke spielen, das andere langweilt sich schon und nörgelt rum. Sehr andächtig.

Über einen Friedhof streifen. „Papa, ich pflück dir Blumen!!“ Und das auf einem Sonntag, wenn viele Menschen ihre Verwandten besuchen.

Vormittags mit der leeren Straßenbahn fahren. Die nächste Straßenbahnhaltestelle befindet sich in einer Entfernung von 249 Kilometer.

Buttercremetorte ohne schlechtes Gewissen essen. Greife ich zur Kuchengabel, kommen zwei Kinder an Das eine: „Haben!! Haben!! Haben!!“ Das andere: „Kann man DAS essen??“ Genuss pur.

Zeit für Langeweile haben. Auf der Gesamtliste mit Dingen, die getan werden könnten, wenn nur Zeit wäre, nimmt die Langeweile gegenwärtig Position 49 ein. Ich habe einfach keine Zeit für sie.

Schaufensterbummel ohne Geld ausgeben. In unserem Dorf gibt es zwei Schaufenster. Das eine ist das von der Bäckerei, die hat aber sonntags geöffnet. Es sind auch zwei Kinder dabei, die wollen nicht nur das Schaufenster besehen. Das zweite Schaufenster in unserem Dorf ist das von der toten Bäckerei, das Fenster seit zwei Jahren leer.

Tatort gucken. Ja, zur Tatortzeit sind die Kinder im Bett. Meistens sitze ich dann endlich in Ruhe – aber nicht vor dem Fernseher, sondern vor dem Computer, um meine Kolumne zu schreiben. Außerdem würden mir die Augen schon vor Überführung des Mörders zufallen.

Schlafen, bis es nicht mehr geht. Das machen wir nicht nur sonntags, das machen wir jeden Tag! Bis es nicht mehr geht! Also bis ungefähr Viertel vor sechs, dann steht der Ganzlütte auf und rüttelt an den Gitterstäben.

Ja, was kann ich denn nur tun, dass auch mein Sonntag anders werde als mein Werktag? Als Vater zweier Kinder in einem kleinen Dorf im äußersten Westen? In meiner Not wende ich mich an meine Kirche und finde Hilfe – auf der Internetseite der EKD zum Thema Sonntagsruhe. Was genau aber Wolfgang Huber mir und meinen Kindern rät, das erfahren Sie in der kommenden Woche.

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