Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundfünfundfünfzig

Schneller!!

 

Wir wissen ja, wie wichtig Regeln und Grenzen sind für Kinder, sie hangeln sich an ihnen entlang durch’s Leben. Regeln geben einen Richtwert an und bieten Sicherheit. Grenzen schützen und sind zugleich zum Austesten da. Wo ist, beispielsweise, die Grenze väterlicher Geduld?

Zu den wichtigen Regeln und Grenzen der modernen Welt gehören auch die des Verkehrs, und ein Kind, das aus strukturschwachen Gründen mit dem Auto durch die Gegend und zur Schule und zu Freunden und zum Chor gefahren wird, kennt nicht nur die Fußgänger betreffenden Zeichen, sondern auch die, die eigentlich nur Autofahrer etwas angehen. Inzwischen kennt sich das Kind gut aus mit dem Autofahren, weiß alles besser und will vor allem eines: Schneller!!

Ich bin ja eher ein besonnener Fahrer. November, Nebel mit Sichtweiten unter hundert Metern. Das Kind kräht fröhlich auf dem Kindersitz hinten rechts: „Schneller, Papa!! Schneller!!“ Dichter Gegenverkehr, kurviger Straßenverlauf: „Papa!! Überhol den!!“ Dann aber kommt es ganz schlimm für das Kind: „Papa!! Der hat UNS überholt!!“ Ja, und? „Fahr schneller!!“

Unser Auto zeigt im zentralen Display den aktuellen Verbrauch an, hochgerechnet auf hundert Kilometer. Dort soll, so ist mein Ziel, immer ein Wert von unter fünf Litern stehen. Diese Anzeige führt dazu, dass ich noch sanfter beschleunige und, wenn ich Zeit habe, auch schlicht langsamer fahre.

Was aber wiederum gewaltig mit den Interessen des Kindes kollidiert. „Papa?! Wie schnell darf man hier fahren?!“ „Och, hier darf man hundert fahren!“ „Papa, du fährst sechzig!!“ Von hinten rechts kann das Kind den Tacho sehen, die Augen sind offenbar in Ordnung.

„Das lohnt doch nicht!“ Ich sehe ja gar nicht ein, warum ich zwischen Nachbardorf S. und Nachbardorf G. großartig beschleunigen soll, nur um nach zweihundert Metern wieder abzubremsen, weil die beiden Dörfer doch so dicht beieinander liegen. Das treibt für zwei Sekunden Zeitgewinn den Verbrauch in die Höhe und versaut mir meinen Schnitt. Eine Diskussion, die wir übrigens jeden Morgen führen, da wir hier jeden Morgen unterwegs sind auf dem Weg zur Schule.

Wenn ich mal ein wenig zu schnell fahre, geht das aber auch umgekehrt. „Papa!! Da stand dran SIEBZIG!!“ „Fahr ich doch!“ „Du fährst ACHTZIG!!“ Spießer! Zur Strafe bin ich neulich geblitzt worden. Kommt eher nie vor. Und dieses eine Mal hatte ich auch noch Glück: Das Foto, das auf dem amtlichen Schreiben gleich draufgedruckt war, zeigte nicht nur unverkennbar mich, es zeigte mich auch unverkennbar schlafend am Steuer. Ich zahlte die geforderten zehn Euro umgehend, bevor einer was merkt, wer weiß, wie viele Punkte und Euro Schlafen am Steuer einbringt.

So lernt das Kind also Regeln und Grenzen und Verkehrszeichen und wie wichtig all dies ist, und dann steht doch neulich direkt vor der Post-Spielzeug-Schreibwaren-Kaffee-Filiale ein Auto im absoluten Halteverbot. Darf er nicht, klar. Ist aber auch kein Drama an dieser Stelle und außerhalb der Saison. Kein Drama? Oh, da kennen Sie Sechsjährige schlecht. „Der darf da nicht parken!!“ „Stimmt.“ „Und wenn die Polizei kommt??“ „Dann muss der Fahrer eine Strafe bezahlen!!“ „Rufen wir jetzt die Polizei??“ „Nö.“

Bares Unverständnis ob dieser väterlichen Ignoranz.

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