Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge einhundertundsiebenundfünfzig
Väter ohne Nerven

Das Kind hat, ganz vorne im Mund, eine exorbitante Zahnlücke, die von allen bewundert wird und werden muss. Körpergrößen variieren wie das Sprachvermögen. Die Zahnlücke sieht aber jeder sofort, und dann weiß er: oha, da wird ein Kind größer und größer.

Als wir hierher zogen in den Schatten des Brandungsrauschens, da war das Kind zweieinhalb. So vergeht die Zeit, so verweht die Zeit im Westwind. Und noch vor den Winterstürmen wird das Kind sieben Jahre alt.

Als ich selbst sieben Jahre alt war, gab es im Fernsehen eine wöchentliche Sendung, die nannte sich „Männer ohne Nerven“. Das waren us-amerikanische Stummfilme der Zwanziger Jahre, unterlegt mit launigen deutschen Kommentaren aus dem Off. Die Schlussszene ist mir vor Augen, in der ein Darsteller mit einem Topf voll Nudeln auf dem Kopf durch die Küche kugelte und rief: „Schööön!“

Viel ist ansonsten nicht hängen geblieben. Was aber hängen geblieben ist ist der Titel: „Männer ohne Nerven“. Es gab übrigens auch die Sendung „Väter der Klamotte“, von der aber weniger hängen geblieben ist. Wohl, weil ich als Bub nicht wusste, was mit „Klamotte“ gemeint war. Klar, ich trug Klamotten am Leibe, aber seit wann haben Hosen und Pullis einen Vater?

Väter der Klamotte, Männer ohne Nerven. Väter ohne Nerven also. Ja, als Vater muss man ab und an auch ohne Nerven sein. Denn das Kind sägt an ihnen. Besser also, ich habe gar keine. In dem Moment, da ich so grübele, stakst der Ganzlütte vorbei Richtung Badezimmer, in der einen Hand mein Handy, in der anderen seinen Stoffhund Siggi, und gleich werde ich wissen, was von beiden er als erstes in der Toilettenschüssel versenken will. Dabei wollte ich doch jetzt eigentlich nur mal eben... ach, Kinder können ganz schön nerven!

Das Kind trödelt herum, dass es nur so eine Art hat. Es kann seine paar täglichen Aufgaben täglich vergessen. Manchmal fließen schon bei kleinen Schrammen Tränen ohne Ende, ja, schon der Gedanke „FAST habe ich mich gestoßen“ kann reale Schmerzen auslösen. Es ist launisch bis zum Abwinken. Ohne mich wären die Meerschweinchen schon längst verhungert. Und der Leihhase auch, der bei uns Urlaub macht, während seine Zieheltern im Urlaub sind. „Ich will auch einen Hasen!!“ Vergiss es. „Und ein Aquarium mit vielen Fischen!!“ Oh ja, und ich sehe sie schon alle Bauch oben in der dreckiger Brühe dümpeln!

Wie kann das sein? Wie kann man denn gleichzeitig lieben und genervt sein? Überlegen Sie mal mit. Nein, ich meine jetzt nicht Ihren Partner, ich rede nur von Kindern. Ich liebe – also bin ich. Und was bin ich? Ich bin genervt. Bin ich also ein schlechter Vater?

Nach einigem Grübeln komme ich drauf: Ich habe mich von der Zahnlücke täuschen lassen! Ich vergesse wegen der ach so großen Zahnlücke, das meine Große – noch klein ist. Und ich halte inne. Mein Gott, das Kind ist doch gerade erst zur Schule gekommen! Es muss noch so vieles lernen! Es ist noch so klein! Ja, es hat noch nicht einmal richtige Zähne!

Und dann denke ich noch weiter und erkenne: Es sind gar nicht die Kinder. Die nerven nicht, die sind ganz normal, wie Kinder so sind. ICH bin es ja selbst, der genervt ist, ICH. Vielleicht sollte ich an mir etwas ändern?

Nach den „Vätern ohne Nerven“ kommen wir in der nächsten Woche dann also zu den „Männern der Klamotte“ ...

zurück