Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundneunundfünfzig
Die adventliche Badewanne

Die erste Kerze am Adventskranz brennt, gedämpft ertönt jahreszeitlich passende Musik aus den Lautsprechern, die Lieblingspastorin singt dazu halblaut vor uns hin, draußen heult der Wind an der Hausecke.

Der Ganzlütte baut einen Turm. Also nach Art der Anderthalbjährigen: Er fügt zwei Legosteine zusammen mit der Zunge zwischen den Zähnen und einem Zeitaufwand von vier Minuten. Es gelingt! Er ist glücklich, strahlt, präsentiert sein Werk. Und greift vor lauter Begeisterung sogar nach einem dritten Legostein.

Eltern neigen gelegentlich dazu, ihre Kinder zu beobachten und sie in ihrem Tun und Lassen tun zu lassen, auf dass sie lernen, selbst mit der Welt klar zu kommen. Und sei es, dass sie lernen, zwei Legosteine zusammen zu fügen. Gut, Eltern sollten eingreifen, bevor es Verletzte gibt, aber eigentlich auch erst dann.

Kinder wiederum neigen gelegentlich dazu, GAR nicht beobachten zu können, sondern eingreifen zu MÜSSEN. Weil es nicht schnell genug geht, weil zwei Legosteine langweilig sind, wenn man hundert hat, weil der Turm sonst nie wirklich hoch wird und weil so ein Ganzlütter sowieso nicht exakt arbeiten kann. Ganz im Gegensatz natürlich zu einer Fastsiebenjährigen.

Kommt also das Kind des Wegs, sieht den „Turm“, möchte dem Ganzlütten helfen. „Helfen“ heißt bei einer Fastsiebenjährigen: es dem kleinen Geschwist aus der Hand reißen und selbst machen.

Jetzt baut also das Kind einen Turm. Nach Art der Fastsiebenjährigen: Es fügt Legostein auf Legostein, schnell ist der Turm über einen Meter hoch. Aber es gelingt nicht! Denn der Turm ist wackelig, und eine unachtsame Bewegung lässt die Klötzchen mit viel Krawumm in die Tiefe stürzen. Macht nix. Das Kind beginnt von neuem, der Ganzlütte staunt, die Musik ist adventlich, draußen heult der Wind.

Die Lieblingspastorin greift zur Gitarre, schon erreicht der Turm schwindelnde Höhen, Kerzen knistern, krawumm. Macht schon etwas, das Kind schluckt sicht- und hörbar.

Wir singen, das Kind baut, der Ganzlütte staunt. „Das schreibe ich in mein Tagebuch!! Erster Advent, einen hohen Turm gebaut!!“, tönt das Kind. Krawumm. „WAS schreibst du in dein Tagebuch?“, wage ich zu fragen. Böse Blicke. Sehr böse Blicke.

Mit grimmiger Entschlossenheit wird erneut Stein auf Stein gesetzt. „Macht hoch den Turm, die Tohor macht weit...“ singen wir vernehmlich. Krawumm. Draußen heult der Wind, drinnen heult das Kind. Die Lage droht außer Kontrolle zu geraten, erste Legosteine fliegen an die Wand. Da wir eingreifen müssen, bevor es Verletzte gibt, legen wir Gitarre und Gesang beiseite und schlagen vor, doch lieber keinen Turm zu bauen. „Ich WILL aber!! Wollt ihr, dass ich GAR NICHTS baue!?“ „Bau doch eine, äh, eine Badewanne! Ja, mit Entspannungsbad!“ Kurzer erstaunter abgelenkter Blick durch den Schleier der Tränen. „Man kann doch keine Badewanne aus Legosteinen bauen!!“

Da ist das Kind natürlich an die falschen Eltern geraten! Wir hocken uns hin und beginnen das Werk. Irgendwann ist die Badewanne fertig, samt Duschkopf und Wasserhähnen und Entspannungsbad. Aus Lego.

Der Wind heult, allein der Wind, die Kinder strahlen. Mal sehen, was wir am nächsten Sonntag bauen, wenn der Advent wieder eskaliert.

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