Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

 

Folge fünfzehn
Die Gebote. Teil eins: Du sollst nicht töten

Bin ich gläubig? Na klar! Da sind zum Beispiel die zehn Gebote. Daran fühle ich mich gebunden, die werden umgesetzt, ohne Wenn und Aber. Fast ohne. Also nur ein wenig, äh, umgedeutet, fallweise. Also, fallweise können von den zehn Geboten zwei oder drei umgesetzt werden.

Die anderen möchte ich Ihnen gerne in lockerer Folge vorstellen und Ihnen zugleich auch zeigen, warum sie mit dem alltäglichen Familienleben unvereinbar sind. Heute also der erste Teil: „Du sollst nicht töten.“ Klingt einfach, nicht? Es ist auch einfach, das Töten. Wir benötigen dafür ein Überraschungsei, einen Staubsauger, ein vierjähriges Kind und ein bisschen Geduld.

Was wissen wir von Überraschungseiern? Ihr Kern ist ihr Sein, die kleine gelbe Kapsel. Die dünne Schokolade drumherum ist nur die Dekoration, von der Uromas denken, sie schmeckt den Kindern. Uromas sollen das denken, denn Uromas würden niemals völlig unmögliche und hässliche Figuren aus Plastik kaufen. Um die aber geht es im Kern.

Was wissen wir von Staubsaugern? Ihr Lärm sorgt dafür, dass erst der Hund mit leicht panischem Blick sich ganz hinten im Haus irgendwo versteckt. Ihre Anziehungskraft sorgt dann dafür, dass sämtliche Hundehaare, die der Hund nicht in seine Ecke mitgenommen hat, verschwinden. Und ihre Dummheit sorgt dafür, dass sie wahllos einsaugen, was ihnen vor den Rüssel kommt: Hundehaare also und Tannennadeln und tote Kellerasseln und Eheringe und Überraschungseierverpackungsreste und Legosteine.

Was wissen wir von vierjährigen Kindern? Vierjährige Kinder kennen natürlich den Unterschied zwischen lebendigen Dingen und nicht-ganz-so-lebendigen Dingen. Aber noch das töteste Plastik kann einer Vierjährigen ans Herz wachsen wie ein lebendiges Kaninchen. So war das auch bei dem Beißer.

Da kommt also die Uroma zu Besuch mit einem Überraschungsei. „Danke, Oma!!“ Dem Kind geht es um den Kern, um eine dieser völlig unmöglichen und hässlichen Figuren aus Plastik. Die Schokolade lässt es unauffällig fallen, als der Hund vorbeitrabt.

Im besten Fall kommt das Kind dann mit der völlig unmöglichen und hässlichen Figur zu Papa und fragt bittend: „Papa, findest du das Männchen schööön??“ Und Papa antwortet mittelmäßig diplomatisch. „Ja, doch, irgendwie auch schon interessant oder so?!“ Worauf das Kind erleichtert sagt: „Fein, dann kannst du es haben, ich finde es total hässlich!“

Aber meistens wird man mit der völlig unmöglichen und hässlichen Figur bekannt gemacht mit den Worten: „Das ist mein neuer Freund!!“ Und dieser neue Freund – der letzte hatte einen auf- und zuklappbaren Unterkiefer und hieß laut des Enthält-verschluckbare-Kleinteile-Zettelchens „Der Beißer“ – muss dann überall mit hin, aufs Klo und in den Kindergarten und ins Bett. Ein Alptraum für jeden ästhetisch auch nur halbwegs begabten Menschen.

Irgendwann jedoch kommt der Moment, wo das Kind einen solchen Beißer vergisst. Einige Minuten reichen, schon ist das Kind in den Kindergarten verfrachtet und der Beißer liegt in einer Ecke unter dem Bücherregal. Ja, und dann haben wir den Rüssel des Staubsaugers in die richtige Richtung gehalten. Es macht kurz „flupp“, und dann war der Beißer weg und tot und für immer.

Du sollst nicht töten.

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