Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundzweiundsechzig
Lauthals rieselt der Schnee

Das Kind singt ja gerne, und in den vergangenen Wochen sind es natürlich vor allem Advents- und Weihnachtslieder gewesen, aber auch Schneelieder. Von „A B C, die Katze lief im Schnee“ über „Leise rieselt der Schnee“ bis hin zum Klageruf „O weh, o weh! Noch immer liegt kein Schnee!“

Hier an der Westküste sind Schneelieder natürlich unsinnig, denn echten Schnee in Mengen gibt es selten. Ja, ich weiß, die Schneekatastrophe Ende der Siebziger. Aber sonst? Eben.

Vielleicht lag es ja doch an der enormen Lautstärke, mit der das Kind Liedgut durchs Haus treibt, dass der HERR oder Frau Holle oder die Atmosphäre ein Einsehen hatte?! Eines schönen Tages schauen wir aus dem Fenster, gleich dröhnt das Kind begeistert los: „Es schneit, es schneit, kommt alle aus dem Haus! Die Welt, die Welt sieht wie gepudert aus!“

Wie alle anderen sind auch wir überrascht, dass es so etwas wie Schnee überhaupt gibt. Mit hängender Zunge ergattern wir im Baumarkt der nächsten Kleinstadt die vorletzte Schneeschaufel (bisher war so ein Gerät schlicht nicht nötig) und das allerletzte Kleinkindersitzgeländer für den seltsamerweise vorhandenen Schlitten, und ab geht’s in den Dorfpark.

Ja, unser Dorf hat einen eigenen Park, eine Stiftung von anno dunnemals. Der Park ist nicht sehr groß, aber immerhin stehen dort mehr als fünf Bäume beisammen, was an der Küste ja eher selten ist. Zudem kann unser Dorfpark punkten mit einer Ruine. Damit ist nicht ein vernachlässigter Herrensitz gemeint, sondern eine echte künstliche Ruine, ebenfalls von anno dunnemals, als der Vorbesitzer des Geländes zwar nicht seiner Ehefrau, aber doch seiner Geliebten imponieren wollte und der in echt eine künstliche Ruine bauen ließ.

Die wurde wiederum vor einigen Jahren originalgetreu restauriert und dann mit Fackelschein und der Freiwilligen Blasmusik eingeweiht. In den nächsten Tagen brachen die bösen Buben des Dorfes einige Teile wieder ab, so dass es sich jetzt um eine künstlich echte künstliche Ruine handelt.

Wichtig ist, dass die Ruine auf einem drei Meter hohen Hügelchen steht (eine der höchsten Erhebungen weit und breit) und sich damit zum Rodeln eignet. Dort stehe ich dann und friere – das nahe gelegene Café hat jahreszeitbedingt geschlossen – und die Kinder rodeln: Das Kind zerrt den Schlitten den Hügel hoch, saust kreischend runter, der Ganzlütte staunt, ich friere, so geht das ein Dutzend Mal, bis sich an den Augen des Ganzlütten das Wort „auch!!“ ablesen lässt. Das Kind zerrt den Schlitten hoch, ich zerre den Ganzlütten hoch, setze beide auf den Schlitten und sie sausen hinab, während ich wieder runterstakse. So geht das ein Dutzend Male, bis ich nicht mehr friere und sich an den Augen des Ganzlütten das Wort „alleine!!“ ablesen lässt. Saust er also allein ins Tal, allerdings versucht er dabei auszusteigen und fällt natürlich mit Salto in den Schnee. Viel Geschrei, also: sehr viel Geschrei. Auch eine Art, wieder warm zu werden.

Irgendwann tappen wir wieder zurück, es schneit noch immer, wir singen sämtliche verfügbaren Schneelieder, endlich passen sie alle!

Über Weihnachten ist der Schnee dann leider wieder verschwunden, es regnet. Leise trällert das Kind „Immer wieder kommt ein neuer Frühling!!“ Na, dann mal her mit den Krokussen.

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