Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertunddreiundsechzig
Uhr ohne Zeiger

Vor Jahr und Tag hat das Kind von einer der Omas eine Spieluhr mit Zeigern aus Holz geschenkt bekommen – zum Lernen. Der Clou: ein Uhrwerk dazu. Neulich habe ich das Beutelchen mit den diversen Kleinteilen wiedergefunden und es sogar geschafft, diese diversen Kleinteile in der richtigen Reihenfolge zusammen zu basteln. Jetzt hängt im Kinderzimmer eine schon etwas abgeschabte Holzuhr, die aber richtig geht.

Was aber nicht immer nütze ist. Denn um die Uhrzeit zu erfahren, muss man nicht nur auf die Uhr gucken, nein, man muss die Uhr auch lesen, begreifen, ihre Botschaft interpretieren. Und wenn drei Leuten an ein- und demselben Morgen mit dem Interpretieren von Botschaften Probleme haben, so ist das ein seltener Fall kollektiver Blödheit, der hier zur Strafe entsprechend gewürdigt werden soll:

Es ist kurz vor Weihnachten. Ganz große Aufregung allenthalben wegen Ferien und Weihnachten und Geschenke, aber auch normal große Aufregung wie jeden Morgen, wenn es gilt, zwei Kinder halbwegs sauber und gekämmt, warm bekleidet sowie fürs Erste gesättigt und mit ausreichenden Mengen an Brot und Obst versehen erst ins Auto und dann in Schule und Kindergarten zu verfrachten.

Natürlich dauert alles wieder viel zu lange, das Kind trödelt herum, dass es nur so eine Freude ist, und der Ganzlütten sucht nach jedem einzelnen Bekleidungsstück das Weite: linken Schuh anziehen, „Und looos!!“, einfangen, rechten Schuh anziehen, „Und looos!!“, einfangen, Mütze aufsetzen, „Und looos!!“, und so weiter. Zwischendurch blicke ich leicht gehetzt auf die Küchenuhr, oha, der große Zeiger ist bald an der zwölf dran, wir müssen jetzt wirklich los, heute ist Freitag, freitags nehmen wir Mio mit zur Schule.

Endlich sind wir alle ins Auto geschnallt und fahren los. Seltsam, denke ich, wenig Verkehr heute, das bisschen Neuschnee in der Nacht. Doch bevor ich den Gedanken sorgfältig zu seinem logischen Ende denken kann, biegen wir auch schon von der Landstraße auf den Hof von Mios Familie ein. Ich steige aus, gehe um die Hausecke Richtung Eingang, seltsam, denke ich, wenig Licht hier heute, doch bevor ich den Gedanken sorgfältig zu seinem logischen Ende denken kann, bin ich vor der Haustür angelangt. Ich strecke die Hand nach der Klingel aus – da klingelt mein Handy. Wer, um alles in der Welt, ruft mich um diese Zeit an!? Auf dem Display steht „Zuhause“, meine liebe Frau ruft mich an. „Es ist sieben Uhr!! Nicht acht!!“

Wirklich nur eine Sekunden später und ich hätte Mios Familie unsanft aus dem Schlummer gerissen! Mein Gott, wäre das peinlich geworden! Vorsichtig schleiche ich zum Auto zurück, unendlich sanft starte ich den Motor und fahre meine verdutzten Kinder wieder nach Hause.

Der Wecker hatte versagt und eine Stunde zu früh gepiept. Und drei Leute, die zum Teil schon seit Jahrzehnten die Uhr lesen können, haben immer nur auf den großen Zeiger der Küchenuhr gesehen. Doch ab und zu ist es hilfreich auch auf den kleinen zu achten. Wie ja überhaupt Aufmerksamkeit gegenüber den Kleinen hilfreich und gut ist.

Wir haben die geschenkte Stunde gut genutzt. Das Kind tobte durch den verschneiten Garten, der Ganzlütte hat schon mal eine Windel ordentlich voll gemacht und ich habe einen zweiten Becher Kaffee getrunken. Danach konnte ich sogar die Uhr problemlos interpretieren.

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