Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

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Folge einhundertundvierundsechzig
Luftballons der Poesie

Nun sind Kinder ja an sich poetisch. Es ist eher das Problem der Erwachsenen, dass sie die Poesie der Kinder nicht hören können im alltäglichen Getriebe. Man muss ein Ohr dafür haben. Und natürlich muss man auch im eigenen Leben Poesie zulassen. Entdecke ich die Poesie in meinem Leben, so kann ich sie auch im Leben meines Kindes entdecken.

Natürlich behaupte ich nicht, dass mir das im alltäglichen Getriebe fortwährend gelingt. Gewiss nicht. Manchmal aber schon, das ist dann schön.

Manchmal sind es nur wenige halblaute Worte, die das poetische Vermögen der Kinder erahnen lassen. Als das Kind so ungefähr zweieinhalb Jahre alt war, fuhren wir ab und zu mit dem Linienbus in die nächste Stadt. Der Linienbus fuhr über die Dörfer und beförderte alle möglichen Leute. Die wurden vom Kind dann ausführlich betrachtet. Zwei Reihen hinter uns saß ein Mann, der schlief mit offenem Mund. Das Kind legte den Kopf schief und sagte halblaut und ganz sanft: „Mann da!! Läääft!!“ Ja, mein Schatz, und guck mal dort draußen die Pferde. Das Kind legte den Kopf auf die andere Seite und rief vernehmlich und nicht mehr ganz so poetisch: „MANN DA!! LÄÄÄFT!!“ Ja, und da ist der Mann natürlich aufgewacht und ein wenig rot geworden. Soll keiner sagen, Poesie wäre wirkunslos.

Ein Familienklassiker ist die tragische Poesie. Ich sauge Staub, es klingelt an der Tür. Das Kind ist schneller. Ein Fremder: „Guten Tag! Ist deine Mama da?“ Das Kind guckt den Fremden lange und ernst an und sagt dann mit leichtem Zittern in der Stimme: „Mama ist schon auf dem Friedhof...“ Klar ist sie das, sie hat etwas mit dem Küster zu besprechen, aber das weiß der Fremde ja nicht. Poesie ist nicht immer „schön“.

Selbst der Ganzlütte ist poetisch auf seine Weise, gegenwärtig tonal. Er kann schon ein ganzes Lied auswendig, nämlich dieses hier: „Da da daa da dada daada, da da daada dada da!“ Ins Hochdeutsche verdolmetscht: „Seht, was wir geerntet haben, lieber Gott, wir danken dir!“ Er singt es seit Ende September, viele Male am Tag, lauthals natürlich und voller Begeisterung. Allerdings findet der Rest der Familie, dass das Lied nicht mehr sooo gut passt, Ende Januar und bei minus acht Grad. Ja, Poesie ist nicht immer passend.

Manchmal durchdringt die Poesie unser Leben nur durch ein einziges Wort, das so schön ist, dass man es sich merkt und aufschreibt und fürderhin nicht vergisst. Kuscheltierpflegerin ist so ein Wort. Solche Wörter findet nur ein Poet.

Jetzt aber wurde das Kind sieben Jahre alt, nun steht ohne Wenn und Aber die ultimative Geburtstagsfeier an, zügig werden dreizehn Namen genannt von Freundinnen, die unbedingt eingeladen werden müssen. Da wir ahnungslosen Eltern sechs dieser Namen noch nicht gehört haben, zumindest waren die Trägerinnen noch nie bei uns und das Kind nie bei ihnen, können wir das Kind auf sieben Gäste runterhandeln, den Ganzlütten und die Meerschweinchen jetzt mal nicht mitgerechnet.

Die Wichtigste aber ist die Lieblingsfreundin Nunu. Sagt das Kind: „Ohne Nunu darf kein Luftballon schweben.“ Ist das nicht wunderbar liebevoll und romantisch und poetisch? Wie gut, dass ich im alltäglichen Getriebe gerade das Ohr offen hatte für Poesie.

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