Das Kind
Erzählungen von Rainer Kolbe

plus > Download

 

Folge einhundertundfünfundsechszig
Lesen lassen, lesen müssen

Letzte Woche haben wir uns an dieser Stelle mit dem Thema Poesie beschäftigt und den vielfältigen Möglichkeiten, Poesie im Alltag zu entdecken, gerade im Alltag mit Kindern. Ohne Nunu darf kein Luftballon steigen.

Zum Thema Poesie passt aber unbedingt auch ein anderes, gegenwärtig beim Kind ganz großes Thema, das Thema Lesen.

Nun soll es ja noch Schulen geben, in denen werden – ganz klassisch und völlig überholt – die Buchstaben von A bis Z durchgenommen. Und wenn die Schüler alle Buchstaben kennen, dann dürfen sie mit dem Lesen beginnen. Was dazu führt, dass der Sohn einer befreundeten Familie auf die Frage seiner kleinen Schwester „was steht da?“ achselzuckend und mit leicht resigniertem Tonfall sagen muss: „Ich kann doch noch nicht lesen...“ Nach einem halben Jahr Schule kein Wort lesen können!

Glücklicherweise gibt es auch Schulen, die diese Dinge anders betrachten und also anders angehen, denn jedes Kind kann sowieso schon lesen, zum Beispiel den eigenen Namen und „Mama“ und „Papa“ und andere einfache Wörter, und darauf kann man aufbauen und eigentlich sofort loslegen und loslesen, und das klappt dann auch ziemlich, das Erfolgserlebnis ist groß, von Resignation keine Spur.

Lesen hat bekanntlich mit Vorlesen zu tun, und bei uns wird den Kindern mit einer Selbstverständlichkeit vorgelesen, dass es nur so eine Freude ist. Vor allem aber: sein wird. Dann nämlich, wenn auch das letzte unserer Kinder angeregt ist, endlich selbst zum Buch zu greifen und herumzubuchstabieren. Dann wird die Freude groß sein: Sie lesen selbst, sie wollen es ja, ich kann mich zurücklehnen und endlich wieder eigene Bücher zur Hand nehmen!

Die Große tut es jetzt, entziffert Wort für Wort. Es gibt kein Zurück. Lesen können, ja, geradezu lesen müssen. Und nun können wir Eltern endgültig gar nichts mehr herum liegen lassen: Brigitte und Eisenbahn-Magazin, das geht ja noch. Die Tageszeitung ging eigentlich wegen der allgegenwärtigen Katastrophenbilder schon länger nicht mehr, jetzt noch weniger. Das Kind buchstabiert sich durch: „Inferno im Tunnel“. „Papa, was ist ein Inferno??“ Die Rubrik Aus aller Welt ist nicht gerade die Kinderseite.

Doch auch die kleinen Zettelchen mit alltäglichen Nachrichten für die gerade abwesende Lieblingspastorin liegen nicht mehr herum. Da stehen nämlich so interessante Dinge drauf wie „Adventskalender auffüllen!“ oder „Nunu hat abgesagt!“.

Jetzt liegt gar nichts mehr offen herum. Nur der harmlose Einkaufszettel, aber den kann ich selbst kaum entziffern, wenn ich vor dem Kühlregal stehe.

Da aber Lesen und Schreiben zusammenhängen, ja, einander bedingen und umgekehrt, so kann ich jetzt mein kleines großes Kind dazu bringen, an meiner Statt den Einkaufszettel zu schreiben. Das Kind springt freudig auf und holt Zettel und Stift. Schöner Nebeneffekt dieser Begeisterung: Ich selbst muss nicht mehr aufspringen und Zettel und Stift holen.

Und dann schreibt es, was ich später vor dem Kühlregal kaum entziffern kann. ERPSNSUPE, KESE, BIA, TOMATN, KWAK, BUTA.

Was einen mit der Nase darauf stößt, wie man eigentlich so daher spricht. Wir können alles, außer Hochdeutsch.

zurück