Rainer Kolbe - Das Kind

 

174 Kinderfrei auf Reisen

Ich habe frei, sozusagen, kinderfrei. Und bin auf Reisen. Ich reise für einige Tage nach Süddeutschland, zu meinem Patenkind. Ich reise und lese und döse. (Um Missverständnissen hinsichtlich meines Fahrstils vorzubeugen, sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich mit der Bahn fahre.) Ich beobachte andere Reisende und die Landschaft. Ich muss nicht reden, gar keine Fragen beantworten, mir keine Spiele ausdenken. Ich kann im Speisewagen speisen ohne große Kleckerei. Ich muss keine einzige Reisewindel wechseln. Ich bin ganz bei mir.

Am Abend kommt mein Zug an im Süden. Da ist mein Patenkind. Es ist schon ein paar Jahre älter als mein eigenes großes Kind. Nach dem Abendessen ist noch ein wenig Zeit. Mein Patenkind und ich spielen ein altersgerechtes Spiel. Also: ein meinem Alter gerecht werdendes Spiel. Ich muss nicht verlieren, der Kinderlaune wegen, ich darf gewinnen, das Patenkind ist ein guter Verlierer. Allerdings verliere ich.

Am nächsten Tag ist mein Patenkind in der Schule. Ich lustwandle durch die Altstadt: Viel Fachwerk, ein alter Brunnen, der Wehrturm. Ich bin ganz bei mir und meinem Tempo und beobachte die kleine Stadt sehr lange und geduldig beim Stadtsein. Ich betrete eine Kirche. Stille und viel Licht umfangen mich. Keinerlei Fragen oder befremdliche Gerüche liegen in der Luft.

Ich sitze auf der Terrasse eines Caféhauses. Die Sonne wärmt ein wenig, Spatzen tschilpen. Ich nippe an meinem Latte Macchiato und beobachte andere Menschen, vorzugsweise andere Eltern. Sie müssen reden, Fragen beantworten, sich Spiele ausdenken und sogar Windeln wechseln. Ein lautstark trotzendes Kleinkind wird vorbei getragen. Ich lächle milde. Ich darf das.

Ich begleite mein Patenkind zum Oboenunterricht. Eine halbe Stunde, hochkonzentriert. Ich muss nur zuhören, ich muss gar nichts sagen.

Mein Patenkind und ich besuchen eine Keksfabrik, also den Schuppen mit Fabrikverkauf. Das geht ganz einfach von statten und ist frei von quantitativ bedenklichen Forderungen.

Am frühen Abend gehen wir in die Kirche, es wird ein Konzert gegeben. Das Patenkind ist still und aufmerksam. Es muss nicht mittendrin auf Toilette.

Mein Patenkind und ich machen einen langen Spaziergang. Einmal um die ganze Insel herum, ein gutes Stück. Das geht ohne jede Erschöpfung. Der Spielplatz zwischendurch wird kurz besucht, als mir das Warten zu kalt wird, gehen wir tatsächlich einfach weiter, ganz ohne Diskussion.

Nachts liege ich im Gästebett unter Felixbettwäsche und werde meinem eigenen Kind erzählen können, dass ich endlich weiß, wie sich das anfühlt.

Die Tage sind vergangen, ich reise wieder. Der Zug fährt am Bodensee entlang, die ersten Segelboote sind zu Wasser gelassen, die ersten Sträucher haben kleine grüne Blättchen. Von der Ferne her grüßen die Schweizer Berge, schneebedeckt. Zwei Schwäne dösen am Ufer. Die Weinberge sind noch graubraun, die Weiden aber schon kräftig grün. Später windet sich der Zug in engen Kurven einmal quer durch den Schwarzwald. Das Sonnenlicht spielt mit den Stämmen der kahlen Bäume. Ich beobachte die Landschaft. Ich muss nicht reden, gar keine Fragen beantworten, mir keine Spiele ausdenken. Ich kann im Speisewagen speisen ohne große Kleckerei. Ich muss keine einzige Reisewindel wechseln. Ich bin ganz bei mir.

Es ist dunkel. Der Dorfbahnhof liegt still im Abend. Ich laufe unter Wolken nach Hause, es nieselt. Die Kinder schlafen. Meine Reise ist zu Ende. Ich war ganz bei mir. Jetzt bin ich hier, bei euch.

Ihr habt mir gefehlt.

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