Rainer Kolbe - Das Kind

 

175 Randvolle Gummistiefel

Das Kind und des Kindes Lieblingsfreundin Nunu sind ein Herz und eine Seele, sie kennen einander seit dem Schnuppertag, haben sich beim Einschulungsgottesdienst wiedergefunden, sitzen im Unterricht Seite an Seite (solange man sie lässt...). Ihr Tag beginnt damit, dass sie in der Schule die Schuhe tauschen. Echte Freundinnen eben.

Allerdings wohnt Nunu diametral am anderen Ende der Landschaft, also doppelt so weit von uns entfernt wie die Schule ohnehin schon weit entfernt ist. Wir haben es ja so gewollt, mit der Schulwahl, jetzt müssen wir es ausbaden. Oft ist das Kind bei Nunu zum Spielen und Lernen und Toben und Backen und Essen und Trinken und CD-Hören. Und ab und an ist Nunu auch bei uns, dann lebt das Toben in unseren Wänden und in unserem Garten.

Neulich war es wieder soweit. Nunu wird gebracht, sofort geht das große Gekicher los, Schuhe und Jacke werden abgeworfen, in wilder Hast geht es die Treppe hinauf, kaum das unsereiner „Hallo!“ sagen kann. Und dann hört man es – stundenlang und sich fortwährend steigernd – im Haus rumoren und kichern, rumpeln und gackern, schaben und lachen.

Nachdem die beiden des Kindes Zimmer ausgiebig verwüstet haben, kommen sie hungrig und durstig die Treppe wieder herunter. „Papa!! Durst!! Papa!! Hunger!!“ Wir setzen uns zu leichtem Gebäck und einer Tasse Tee, die beiden sind so laut und aufgedreht wie es nur zwei Lieblingsfreundinnen sein können. Der Ganzlütte sitzt da und staunt.

„Wir gehen raus!!“ Gute Idee, denke ich, dann kehrt Ruhe ein. Die Luft ist klar, leicht frühlingshaft, von der See her frisch, wozu wohnt man denn an der Küste? Und die Natur ist sowieso gottgefällig. Also raus mit euch.

Vorher aber gibt es viel Geschrei in der Diele, Pullover werden hin und her sortiert, Jacken anprobiert, verworfen, getauscht, Schuhe durch die Luft geschleudert, Türen sowieso, ich empfehle Gummistiefel. Jetzt sind beide angezogen, jetzt müssen sie noch mal auf Klo, klar, warum sollte es heute anders sein als sonst?

Schon eine Dreiviertelstunde später (ungelogen!) ist es soweit: Sie sind draußen. Und sie haben sogar die väterlich empfohlenen Gummistiefel an: Rund um die Pastoratswarft ist die Graft, und in der Graft steht Wasser. Regenwasser, nicht sehr hoch, aber stellenweise kinderkniehoch. Ich rufe den beiden noch eine schnelle Mahnung hinterher, „Ja, Papa, wir passen schon auf!!“ Zehn Minuten später sind beide wieder da und lachen sich halb schlapp, natürlich haben sie nicht aufgepasst, natürlich ist das Wasser oben über den Rand gelaufen: randvolle Gummistiefel.

Ich hole frische Wäsche, leiste erste Hilfe beim Umziehen, stopfe sodann die nassen Gummistiefel mit Zeitungspapier aus. Sofort versucht der Ganzlütte, seine eigenen kleinen Gummistiefel mit Zeitungspapier auszustopfen. Leider versucht er es mit der Wochenendbeilage der Zeitung, und die ist zwar nicht zu groß für ihn, aber zu groß für den Gummistiefel. Da ist er, der nächste Trotzausbruch. Immerhin kann ich mir zugute halten, dass er nicht nur die Schwester nachahmt beim Frechsein, sondern auch mich bei sinnvollen Tätigkeiten...

So schön und lang und laut und frech ein Tag auch immer sein kann, irgendwann naht die Stunde des Abschieds, Nunus Papa ist gekommen. Blitzschnell sind die beiden Freundinnen verschwunden und verstecken sich im Haus. Wollen sich nicht trennen lassen. Ohne die Androhung roher Gewalt, ohne den Einsatz sanfter Gewalt geht es jetzt leider fast gar nicht, Tränen fließen, Eltern werden beschimpft, wie können wir es nur wagen, die beiden zu trennen? Bis zum nächsten Wiedersehen dauert es noch ewig!

Also neun Stunden. Morgen in der Schule geht’s weiter.

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